Bundestagspräsident will 5-jährige Legislaturperiode
Archivmeldung vom 03.08.2015
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 03.08.2015 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittBundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) will die Wahlperiode des Parlamentes verlängern. Die Forderung von SPD und Grünen, zugleich Plebiszite im Grundgesetz zu verankern, lehnt er jedoch strikt ab. "Es gibt gute Gründe, die Legislaturperiode des Bundestages auf fünf Jahre zu verlängern. Im Parlament gibt es seit langem dafür eine haushohe, virtuelle Mehrheit", sagte Lammert der "Welt".
Im Unterschied zu anderen Abgeordneten sei er "nicht dafür, im Gegenzug Plebiszite auf Bundesebene einzuführen". Dies würde "die Architektur unseres politischen Systems nachhaltig verändern. Dagegen ist eine längere Legislaturperiode eine schlichte Frage der Zweckmäßigkeit, keine Grundsatzfrage." Fast alle Parlamente in Deutschland und Europa würden alle fünf Jahre gewählt, sagte der Bundestagspräsident.
Außerdem werde "nirgendwo so oft gewählt wie bei uns: Bürgermeister und Landräte, Stadträte und Kreistage, Landtage, der Bundestag, das Europäische Parlament. Dies fördert die Wahlbeteiligung erkennbar nicht." Die ständigen Wahlkämpfe schränkten "die Gestaltungsmöglichkeiten des Bundestages faktisch erkennbar ein", sagte Lammert: "Eine fünfjährige Wahlperiode würde diesen Umstand relativieren." Bis sich das Parlament arbeitsfähig etabliert, alle Gremien eingerichtet habe, "ist ein halbes Jahr vorbei", sagte der CDU-Politiker: "Das letzte Jahr steht im Zeichen des Bundestagswahlkampfes. Von den bisher vier Jahren ist die parlamentarische Arbeit zweieinhalb Jahre lang von solchen Rücksichten nicht betroffen. Bei einer fünfjährigen Wahlperiode wären es dreieinhalb Jahre."
Lammert forderte außerdem, die Grundzüge des Wahlrechts in die Verfassung aufzunehmen: "Das Grundgesetz regelt vieles, manches bis ins Detail. Wegen ihrer überragenden Bedeutung sollten die Grundstrukturen des Wahlsystems in der Verfassung verankert sein, und damit sowohl parlamentarischen Opportunitätserwägungen entzogen sein wie dem Gestaltungsehrgeiz des Verfassungsgerichtes. Die Verfassung könne regeln: Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht, die Anzahl der Stimmen, die Dauer der Legislaturperiode, die Zulässigkeit einer Sperrklausel, die Größe des Bundestages." Das Grundgesetz sei "schon 57 Mal ergänzt und erweitert - oft für weitaus nachrangigere Fragen als das Wahlrecht", sagte Lammert.
Vertreter aller Fraktionen zeigten sich aufgeschlossen für eine längere Legislaturperiode. Dieser Vorschlag sei "diskussionswürdig", sagte Stephan Mayer, innenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der "Welt". Es sei aber sinnvoll, diese Idee nicht "isoliert zu betrachten, sondern zugleich zu überlegen, ob damit nicht weitere Veränderungen im Wahlrecht vorzunehmen sind". Diese Überlegungen seien indes "noch nicht abgeschlossen". Die "guten Erfahrungen anderer Parlamente mit einer fünfjährigen Wahlperiode sollte man berücksichtigen", sagte Mayer.
"Die SPD ist offen für eine Diskussion über die Verlängerung der Legislaturperiode des Bundestags auf fünf Jahre", sagte die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Eva Högl der "Welt". Allerdings bedeute eine Verlängerung der Wahlperiode "auch ein Weniger an Möglichkeiten der demokratischen Einflussnahme durch die Bürger". Die SPD habe deshalb eine mögliche Verlängerung der Wahlperiode "immer damit verknüpft, den Bürgern an anderer Stelle mehr direkte demokratische Mitsprache einzuräumen. Dies könnte durch zum Beispiel durch Volksbegehren und Volksentscheide auf Bundesebene geschehen."
Högl fügte hinzu: "Man kann nicht das ein tun und das andere lassen. Hierfür haben wir uns auch in den Koalitionsverhandlungen eingesetzt, konnten uns aber nicht gegen die CDU durchsetzen." Deutlicher als die Vertreter der Koalition fordert der designierte Linke-Fraktionsvorsitzende Dietmar Bartsch, den Bundestag nur alle fünf Jahre wählen zu lassen. "Ich kenne fast keinen Kollegen im Bundestag, der nicht für eine fünfjährige Wahlperiode plädiert", sagte Bartsch. Es sei "kurios", wenn Europäisches Parlament und 15 Landtage alle fünf Jahre gewählt würden, "und nur der Bundestag und die Bremer Bürgerschaft alle vier Jahre".
Der Linke-Politiker argumentierte ähnlich wie Lammert: "In der Realität kann der Bundestag ja gar nicht vier Jahre lang arbeiten. Er muss sich erst finden, und ein Jahr vor der nächsten Wahl ist Wahlkampf". Manchmal lähmten wichtige Landtagswahlen den Bundestag. Auch das spreche dafür, "die Legislaturperiode maßvoll von vier auf fünf Jahre zu verlängern".
Die Grünen stellen derweil eine Verbindung zwischen einer längeren Wahlperiode und der Verankerung von Plebisziten im Grundgesetz her. Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Bundestagsfraktion, Britta Haßelmann, sagte: "Wenn über eine Verlängerung der Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre gesprochen werden soll, muss dies einhergehen mit der Einführung direktdemokratischer Elemente, mehr Beteiligung und Partizipationsmöglichkeiten von Bürgerinnen und Bürgern."
Lammert fordert Wahlrechtsreform
Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) fordert das Parlament zu einer baldigen Reform des Wahlgesetzes auf. "Das deutsche Wahlsystem ist kompliziert, und die Mandatsverteilung für die meisten Wähler undurchschaubar", sagte Lammert der "Welt am Sonntag": "Deshalb sollte das Parlament jetzt, also rechtzeitig vor der nächsten Bundestagswahl, eine Reform des Wahlrechts anpacken." Schon bei der Wahl 2013 habe "eine erstaunlich geringe Zahl von Überhangmandaten zu einer erstaunlich hohen Zahl an Ausgleichsmandaten" geführt, sagte Lammert. Das sei ein "abstruser Zustand". Regulär besteht der Bundestag aus 598 Abgeordneten; derzeit gehören ihm 631 Parlamentarier an. Bei der Wahl 2013 hatte es 4 Überhangmandate und 29 Ausgleichsmandate gegeben. "Allein der Umstand, dass die Wähler am Wahltag nicht wissen, wie viele Abgeordnete sie wählen, ist Grund genug für eine Reform", sagte Lammert. Wahlrechtsexperten halten nach der Wahl 2017 einen Bundestag mit 650 oder gar über 700 Abgeordneten für möglich.
"Bei der Bundestagswahl 2017 kann es zu sehr vielen Überhangmandaten kommen. Das würde ein Vielfaches an Ausgleichsmandaten nach sich ziehen", sagte der Politikwissenschaftler Prof. Frank Decker (Uni Bonn) der "Welt am Sonntag". Je nach Wahlausgang seien "bis zu 100 Abgeordnete zusätzlich möglich". Andere Experten halten ein Parlament mit 800 Mandaten für möglich. Nach Berechnungen des Bundes der Steuerzahler würden 700 Abgeordnete (plus Mitarbeiter, Kostenpauschalen, Fraktions- und Reisekosten) jährliche Mehrkosten von 41 Millionen Euro verursachen. Bei 740 Abgeordneten lägen diese Mehrkosten bei 64 Millionen Euro im Jahr, errechnete der Bund der Steuerzahler für die "Welt am Sonntag". Die Gesamtkosten des Bundestages (631 Abgeordnete, mit Verwaltung) belaufen sich derzeit auf 803 Millionen Euro jährlich. Die Opposition drängt ebenfalls auf eine Wahlrechtsreform, während Union und SPD zögern.
"Ein Parlament mit 700 oder 800 Abgeordneten wäre nicht vermittelbar. Rund 600 Parlamentarier reichen aus", sagte der designierte Linke-Fraktionsvorsitzende Dietmar Bartsch der "Welt am Sonntag". Der Bundestag sei "bereits eines der größten Parlamente der Welt, und wir sollten uns hier nicht an China orientieren". Deshalb sollten die Überhang- und Ausgleichsmandate "begrenzt werden". Bartsch fügte hinzu: "Mehr Abgeordnete bedeuten mehr Ausgaben für Personal, Büros, Verwaltungsmitarbeiter, IT-Ausstattung, Reisen und nicht zuletzt Diäten. Diese Kostenexplosion ist dem Steuerzahler nicht zuzumuten."
Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Fraktion, Britta Haßelmann, warnte vor der "Gefahr" eines deutlich größeren Bundestages. Sie sprach von einem "erheblichen Nachteil des jetzt geltenden Wahlrechts", bei dem "weiterhin Reformbedarf", bestehe. Die Grünen-Politikerin verwies auf einen entsprechenden Gesetzesentwurf ihrer Fraktion, der "Überhang - und Ausgleichsmandate überflüssig gemacht hätte". Sie fügte hinzu: "Eine Aufblähung des Parlamentes würde so verhindert werden." Die Grünen seien "jederzeit bereit, über Veränderungen im Wahlrecht zu sprechen". Zurückhaltend zeigten sich Union und SPD. Die Überprüfung des Wahlrechts sei "die ständige Aufgabe des Deutschen Bundestages", sagte Stephan Mayer, innenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Die Funktionalität des Bundestages "würde im Übrigen nicht darunter leiden, wenn es zu einer Aufstockung auf 720 oder gar 740 Abgeordnete käme", sagte Mayer der "Welt am Sonntag".
SPD-Fraktionsvize Eva Högl sagte der "Welt am Sonntag": "Ausgleichsmandate erfüllen den Zweck, den Erfolg der Parteien entsprechend ihrem Stimmanteil im Parlament abzubilden." Es sei "ein großer Erfolg, dass das Wahlrecht jetzt den Vorgaben des Verfassungsgerichts entspricht und nicht mehr im Streit der Parteien steht. Man sollte ihn nicht leichtfertig aufs Spiel setzen."
Kritisch zeigte sich der Bund der Steuerzahler. "Das neue Wahlrecht ist und bleibt ein schlechter Kompromiss, denn es führt unter Umständen zu einer erheblichen Vergrößerung des Bundestages", sagte de! ren Präs ident Reiner Holznagel der "Welt am Sonntag". Er forderte: "Statt den Bundestag auf 700 bis 800 Abgeordnete aufzublähen, sollte das Parlament auf maximal 500 Mandate verkleinert werden."
Quelle: dts Nachrichtenagentur