Nach Gauck-Entscheidung: Verhältnis in Koalition gespannt
Archivmeldung vom 20.02.2012
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittNach der parteiübergreifenden Entscheidung für den Bürgerrechtler Joachim Gauck als neuen Bundespräsidenten, ist das Verhältnis zwischen Union und FDP angespannt. Die SPD wies darauf hin, dass Kanzlerin Angela Merkel erst nach langem Ringen dem Votum der FDP nachgegeben hatte, um einen Koalitionsbruch abzuwenden. Das Erzwingungsverhalten der FDP werde nach Worten des stellvertretenden Unionsfraktionsvorsitzenden im Bundestag, Michael Kretschmer, schwere Folgen für die weitere Zusammenarbeit in der schwarz-gelben Koalition haben.
"Das Verhalten ist symptomatisch für den Zustand der FDP", sagte Kretschmer. "Unter Hans-Dietrich Genscher oder Klaus Kinkel wäre ein solches Verhalten undenkbar gewesen". Es stelle, so der Fraktionsvize der Union, "letztlich einen gewaltigen Vertrauensbruch" dar.
Allgemein begrüßte Kretschmer die Verständigung auf Gauck: "Joachim Gauck ist eine große Persönlichkeit und er wird das Amt gut ausfüllen. Er hat den Deutschen etwas zu sagen." Auch SPD und Grüne begrüßten die Entscheidung. "Ende gut, alles gut. Die Kandidatur von Gauck ist ein gutes und wichtiges Signal an die Bevölkerung", bemerkte SPD-Chef Sigmar Gabriel. Gauck zeichne eine große Unabhängigkeit und Leidenschaft zur politischen Kontroverse aus. Er werde dem Amt des Staatsoberhauptes wieder Würde und Respekt verleihen, so Claudia Roth.
Haseloff und Lieberknecht loben Entscheidung für Gauck
Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) hat die Tatsache, dass mit dem ehemaligen Bürgerrechtler Joachim Gauck und Kanzlerin Angela Merkel künftig zwei Ostdeutsche an der Spitze des Staates stehen, als Indiz für das innerdeutsche Zusammenwachsen begrüßt. "Das zeigt, dass die Ostdeutschen uneingeschränkt angekommen sind", sagte er der "Mitteldeutschen Zeitung". "Wir sind selbstbewusst und können gesamtdeutsch agieren." Überdies habe er seit 1990 "auch Zeiten erlebt, in denen zwei Westdeutsche an der Staatsspitze standen". Haseloff fuhr fort: "Herr Gauck steht mit seiner politischen Persönlichkeit dafür, dass der Vereinigungsprozess weiterhin erfolgreich läuft und ostdeutsche Erfahrungen in der politischen Kultur eine Rolle spielen. Er wird gleichwohl Präsident aller Deutschen sein. Dafür steht sein gesamter Lebenslauf." Gauck werde schließlich auch nicht wegen seiner Herkunft Präsident, sondern aufgrund seiner Persönlichkeit, so der CDU-Politiker. Thüringens Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) erklärte der "Mitteldeutschen Zeitung": "Eindrucksvoller als mit der Nominierung Joachim Gaucks kann man das Erreichen der inneren Einheit nicht zeigen. Er wird ein Präsident der Herzen sein."
SPD-Generalsekretärin Nahles begrüßt Einlenken der Union bei Gauck-Nominierung
SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles hat das Einlenken der Union bei der Nominierung von Joachim Gauck als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten begrüßt. "Das war überhaupt nicht friedlich. Die FDP ist erstaunlicherweise nicht umgefallen - dafür aber die Kanzlerin", sagte Nahles in der Sendung "Günther Jauch" (ARD). Nahles kritisierte jedoch, dass sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erst sehr spät für Gauck als Kandidat für die Nachfolge des zurückgetretenen Bundespräsidenten Christian Wulff entschieden habe. "Das hatte einen einzigen Grund: Frau Merkel hätte eingestehen müssen, dass sie vor zwei Jahren einen Fehler gemacht hat. Am Ende musste sie eingestehen", sagte Nahles. Kritisch äußerte sich die Generalsekretärin der Sozialdemokraten auch dazu, dass die Bundeskanzlerin Die Linke nicht in die Kandidatenkür eingebunden hatte. "Das war eindeutig ein Fehler von Frau Merkel. Man hätte die Souveränität haben müssen: Wenn wir einen Konsenskandidaten wollen, dann sind die auch dabei."
Der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach erklärte das Umschwenken Merkels mit den Kräfteverhältnissen in der Bundesversammlung. "Es hat sich offensichtlich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es für Herrn Gauck eine Mehrheit gibt in der Bundesversammlung", sagte Bosbach.
NRW-Vizeregierungschefin Löhrmann begrüßt Kandidatur Gaucks
Die stellvertretende NRW-Ministerpräsidentin Sylvia Löhrmann (Grüne) hat die Kandidatur von Joachim Gauck als Bundespräsidenten begrüßt. "Joachim Gauck wird unserer Demokratie gut tun", sagte Löhrmann der "Rheinischen Post". "Ich freue mich, dass Joachim Gauck nun im zweiten Anlauf doch unser Bundespräsident werden soll." Er sei ein überparteilicher Kandidat, der für die Macht des Wortes und eine klare Werteorientierung stehe.
Linken-Politiker Bartsch: Schwarz-gelb ist "Bruchpiloten-Koalition"
Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, Dietmar Bartsch, hat die schwarz-gelbe Regierung als "Bruchpiloten-Koalition" bezeichnet. Bartsch erklärte im "Bericht aus Berlin" (ARD), dass sich die Regierungskoalition bei der Kandidaten-Frage für den Nachfolger des vom Amt des Bundespräsidenten zurückgetretenen Christian Wulff nicht einig sei. Man könne also zunächst einmal feststellen, "dass die schwarz-gelbe Koalition eine Bruchpiloten-Koalition ist", fügte Bartsch an. "Da weiß eine Partei nicht, was die andere will", so Bartsch weiter. Eigentlich sage dies etwas über die Bundesregierung aus, sagte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken. "Normalerweise müsste man hier sagen `Punkt aus`, denn der Rücktritt von Herrn Wulff, der war ja nicht so überraschend", führte Bartsch aus und legte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) damit indirekt nahe, die Koalition mit der FDP zu beenden, nachdem sich diese für den von der SPD favorisierten ehemaligen DDR-Bürgerrechtler Joachim Gauck ausgesprochen hatte, der von der Union zunächst abgelehnt wurde. Gleichzeitig beklagte Bartsch die Ausgrenzung von "fünf Millionen Wählerinnen und Wähler" durch Merkel. Er hätte es als Normalität empfunden, wenn die Kanzlerin auch Vertreter der Linken in die Suche für einen geeigneten Wulff-Nachfolger einbezogen hätte. "Das ist ein mangelndes Verständnis von Demokratie", kritisierte Bartsch.
Der Vorsitzende der Linkspartei, Klaus Ernst, hat den ehemaligen DDR-Bürgerrechtler Joachim Gauck als Kandidaten für Amt des Bundespräsidenten abgelehnt. Gegenüber der "Leipziger Volkszeitung" erklärte Ernst, dass Gauck "2012 genauso wenig wie 2020 ein Konsenskandidat" sei. Gleichzeitig kritisierte der Linken-Chef Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die die Linkspartei bei der Kandidatensuche außen vor gelassen hatte. "Merkel denkt, sie kann mit der Ausgrenzung der Linken bei der Suche jeden zehnten Deutschen und jeden vierten Ostdeutschen ausschließen", erklärte Ernst gegenüber der Zeitung. Auch die Hoffnung auf kirchliche Lösungen kritisierte Ernst. "Nur weil man vor allem die Namen von Kirchenleuten diskutiert, darf man nicht auf Wunder hoffen", so der Vorsitzende der Linkspartei. Für seine Partei habe in der Kandidaten-Frage Priorität, "dass nach Wulff und Köhler eine Person an die Spitze des Landes kommt, die von Bank- und Wirtschaftsinteressen genauso unabhängig ist wie von der Regierung", stellte Ernst klar.
Freie Wähler für Gauck als neuen Bundespräsidenten
Die Freien Wähler machen sich für Joachim Gauck als neuen Bundespräsidenten stark. "Joachim Gauck ist ein wohlklingender Name. Kandidiert er, werden wir ihn unterstützen", sagte Hubert Aiwanger, der Vorsitzende der Freien Wähler, der Tageszeitung "Die Welt" (Montagausgabe). Die Freien Wähler gehören dem Bayerischen Landtag an und stellen zehn Wahlleute in der Bundesversammlung. "Wir warten nun ab, ob Herr Gauck zur Verfügung steht. Ich kann mir vorstellen, dass viele Christdemokraten ihn selbst dann wählen würden, wenn die Union einen eigenen Kandidaten nominieren sollte."
Umfrage: 54 Prozent der Deutschen wollen Gauck als Bundespräsident
Mehr als jeder zweite Deutsche will Joachim Gauck als Staatsoberhaupt. In einer repräsentativen Emnid-Umfrage für die "Bild am Sonntag" wünschten sich 54 Prozent der Deutschen den ehemaligen DDR-Bürgerrechtler als neuen Bundespräsidenten. An zweiter Stelle folgten mit 34 Prozent Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière und SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier. Die Zustimmung für Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) lag bei 32 Prozent, darauf folgten Bundestagspräsident Norbert Lammert und der ehemalige Umweltminister Klaus Töpfer (beide CDU) mit jeweils 28 Prozent. Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) mit 27 Prozent. Darauf folgten der CSU-Politiker Theo Waigel (20 Prozent), die Grünen-Politikerin Katrin Göring Eckardt (12 Prozent) und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle (6 Prozent). Mehrfachnennungen waren möglich." "Unabhängig von der Person wünschten sich 79 Prozent der Bürger einen Kandidaten von außerhalb des Politikbetriebes. Nur 16 Prozent gaben an, der Kandidat solle ein ausgewiesener Parteipolitiker sein. Trotz der Rücktritte zweier Bundespräsidenten in zwei Jahren sind die Deutschen weiterhin von der Relevanz des Amtes überzeugt. Auf die Frage, ob Deutschland einen Bundespräsidenten brauche, antworteten 69 Prozent mit Ja. Nur 30 Prozent waren der Meinung, Deutschland brauche keinen Bundespräsidenten.
Die Spitzen von CDU, CSU, FDP, SPD und Grünen hatten sich schließlich doch noch am Sonntagabend auf eine Kandidatur des ehemaligen DDR-Bürgerrechtlers verständigt. Gauck selbst zeigte sich angesichts seiner Nominierung "überwältigt und ein wenig verwirrt".
Quelle: dts Nachrichtenagentur