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Rechtsanwalt Dirk Sattelmaier: "Der geänderte § 130 des Strafgesetzbuchs ist verfassungswidrig"

Archivmeldung vom 07.11.2022

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 07.11.2022 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Sanjo Babić
Rechtsanwalt Dirk Sattelmaier (2021) Bild: Dirk Sattelmaier
Rechtsanwalt Dirk Sattelmaier (2021) Bild: Dirk Sattelmaier

Im RT-Interview erklärte der Kölner Strafverteidiger Dirk Sattelmaier die juristischen Probleme beim geänderten § 130 des deutschen Strafgesetzes. Bei einer Anklage bleibe zum Beispiel offen, welches Gericht festlegen darf, ob es sich bei einer vorgeworfenen "Leugnung eines Kriegsverbrechens" tatsächlich um ein Kriegsverbrechen handelt?

Weiter berichtet RT DE: "Im Interview mit RT DE bewertete der Kölner Strafrechtler RA Dirk Sattelmaier die Einführung des neuen Straftatbestands im § 130 Absatz 5 des deutschen Strafgesetzbuchs. Die Änderung des Strafgesetzes über Volksverhetzung berge bedeutende Gefahren für die Meinungsfreiheit. Aber wenn man sich das geänderte Gesetz genau anschaue, beinhaltete es auch – und das wolle der Jurist direkt vorneweg mitteilen – vom Gesetzgeber eingebaute Hürden, die einer missbräuchlichen Auslegung und damit der Behinderung der Meinungsfreiheit im Wege stünden.

Die Gefahr bei einem Gesetzesbeschluss per Omnibusverfahren

Zunächst ging der Jurist auf die Gefahren ein, die ein Verfahren mit sich bringt, bei dem direkt mehrere Gesetze auf einmal verabschiedet werden – wie es auch im Fall der Änderung des § 130 StGB geschehen ist.

Das Gesetz sei quasi in einer Nacht- und Nebelaktion bei einem sogenannten Omnibusverfahren vom Bundestag beschlossen worden. Das Omnibusverfahren bedeutet, dass in einer Sitzung gleich über mehrere Gesetze abgestimmt wird. Am 20. Oktober wurde vom Bundestag in der Hauptsache über Änderungen zum Bundeszentralregistergesetz votiert. Doch, ohne dass dies inhaltlich dazu gepasst hätte, wurde dann im Omnibusverfahren weitgehend unbemerkt auch über ein diesbezüglich sachfremdes Gesetz entschieden und die Einführung eines neuen Straftatbestands im Absatz 5 des § 130 StGB beschlossen. Begründet wurde das Vorgehen mit einer EU-Richtlinie aus dem Jahr 2008, wonach das Gesetz zeitnah geändert werden musste, weil sonst ein Vertragsverletzungsverfahren seitens der EU gedroht hätte.

Ein Omnibusverfahren sei grundsätzlich mit Gefahren verbunden, stellte der Rechtsanwalt fest. Die größte Gefahr bestehe darin, dass Abgeordnete bei einem schnell eingeschobenen Omnibusverfahren häufig gar nicht realisieren, worüber sie da eigentlich abstimmen. Zumeist würde keine Zeit eingeräumt, um die Gesetzesänderung zu diskutieren.

Zur Verdeutlichung, was ein solcher Ad-hoc-Beschluss ohne jegliche parlamentarische Diskussion für Konsequenzen haben kann, erläuterte Sattelmaier ein Beispiel aus der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Im Jahr 1968 habe der damals hochrangige Mitarbeiter im Bundesjustizministerium, Eduard Dreher, eine Gesetzesvorlage für das "Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz" geschrieben. Diese Vorlage beinhaltete auch Änderungen im Strafgesetzbuch zu Verjährungsfristen von Straftaten – insbesondere zur Beihilfe. Im Rahmen eines Omnibusverfahrens wurde diese Gesetzesänderung nebenbei im selben Jahr vom Parlament beschlossen. Vermutlich sei den Abgeordneten dabei nicht bewusst gewesen, wie sie damit die Strafbarkeit der Beihilfe zu schwersten Verbrechen der NS-Zeit aushebelten. Helfer der Nazi-Gräueltaten konnten anschließend wegen der Verkürzung von Verjährungsfristen nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden.

Dem Juristen Eduard Dreher könne kaum unterstellt werden, dass er die Auswirkungen des Gesetzes nicht gekannt habe, noch dazu, weil er sich in der NS-Zeit als besonders regimetreuer Staatsanwalt hervorgetan hat. Dreher machte auch in der Nachkriegszeit Karriere. Bis zu seinem Tod im Jahr 1995 wurde seine Gesetzesvorlage zur Verjährung der mörderischen Beihilfe in der NS-Zeit nie infrage gestellt und seine Literaturveröffentlichungen wurden von zahlreichen Studenten gelesen. Dementsprechend schwinge bei Omnibusverfahren der Verdacht mit, dass dabei Gesetze "untergeschoben" werde.

Wer definiert bei einer Anklage die Straftatbestandteile Völkermord und Kriegsverbrechen?

Eine weitere Gefahr im Sinne einer missbräuchlichen Anwendung des Gesetzes läge in der Definition der Tatbestandsmerkmale. Da wären zum einen die Tatbestandsmerkmale "Völkermord" und "Kriegsverbrechen", die bei der Verwirklichung der Straftat vorliegen müssen. Nach § 130 Absatz 5 StGB kann derjenige mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden, der Völkermord und Kriegsverbrechen und anderes öffentlich billigt, leugnet oder gröblich verharmlost. Bisher sei nach § 130 Absatz 3 StGB nur das Leugnen und Verharmlosen des Holocaust, welcher eindeutig definiert ist, strafbar gewesen. Dies sei übrigens in den meisten Ländern nicht strafbar, sondern werde aus historischen Gründen vor allem in Deutschland geahndet, erläuterte Sattelmaier die internationale Handhabung des Tatbestands.

Hinsichtlich der aktuellen Gesetzesänderung ergebe sich die Frage, wer denn festlegen dürfe, was ein Völkermord und was ein Kriegsverbrechen sei. Hier bestehe die große Gefahr, dass ein Amtsrichter sich auf Aussagen in den Medien beziehungsweise "das vorherrschende Narrativ" beziehe. Juristisch gesehen muss das Vorliegen eines Völkermords aber nach dem internationalen Völkerstrafrecht geprüft werden. Deshalb seien fachlich gesehen nur Institutionen wie der internationale Strafgerichtshof in Den Haag oder ein deutsches Oberlandesgericht im Rahmen einer umfangreichen Beweisaufnahme in der Lage und auch berechtigt, zu ermitteln, ob die Tatbestandsmerkmale Völkermord und Kriegsverbrechen erfüllt seien.

Vom Gesetzgeber eingebaute Hürden zur Verhinderung einer vorschnellen Verurteilung

Als Nächstes kam der Jurist auf die beiden im Gesetz formulierten Hürden zu sprechen, die nach seiner Auffassung eine vorschnelle Verurteilung verhindern können. Dabei bezog er sich zum einen auf die Hürde bezüglich des Tatbestandsmerkmals der Leugnung: "Das Leugnen muss unter anderem geeignet sein, den öffentlichen Frieden zu stören." Hierbei handele es sich um ein sogenanntes Gefährdungsdelikt. Das heißt, dass nicht jede Verharmlosung oder Leugnung eines Kriegsverbrechens – so denn ein Kriegsverbrechen vorliegt – bestraft würde. Eine Staatsanwaltschaft müsse belegen, dass das konkrete Leugnen im Einzelfall geeignet sei, den öffentlichen Frieden zu stören.

Die zweite Hürde bestehe in der etwas unübersichtlichen Einschränkung im Absatz 5 des § 130 StGB. Demnach "muss sich die geleugnete Tat gegen eine Gruppe, Person oder einen Bevölkerungsteil richten, die oder der im Absatz 1 genannt ist". Laut ständiger Rechtssprechung unter anderem auch des Bundesgerichtshofs (BGH) zum Absatz 1 des § 130 StGB sind damit aber nur Personen, die in Deutschland leben, oder inländische Bevölkerungsteile gemeint. Konkret heißt das: Wenn jemand etwa ein mutmaßliches Kriegsverbrechen leugnet, von dem angeblich Ukrainer betroffen sind, könnte das nach § 130 Absatz 5 nicht verurteilt werden, denn in diesem Fall wäre von der vorgeworfenen Leugnung eines Kriegsverbrechens keine inländische Bevölkerungsgruppe betroffen.

Selbst wenn das Gericht zu dem Schluss käme, ein Verhalten sei geeignet, um Menschen aufzuwiegeln oder den öffentlichen Frieden zu stören, reiche das nicht, wenn der Personenkreis vom Schutz des § 130 Absatz 1 StGB nicht umfasst wird. So wäre die Verharmlosung eines Völkermords an nordamerikanischen Indianern genauso wenig strafbar wie das Leugnen eines Völkermords an den afrikanischen Tutsi in Ruanda oder an Bewohnern der Stadt Butcha in der Ukraine – so es denn da Völkermorde beziehungsweise Kriegsverbrechen gegeben habe. Sie alle gehören im Sinne des Gesetzes nicht zum geschützten Personenkreis.

Gefahr der Gesinnung des Entscheidungsträgers bei der Gesetzesauslegung

Trotz all dieser Hürden für eine Verurteilung dürfe die Gefahr des geänderten § 130 StGB aus einem weiteren Grund nicht unterschätzt werden, denn eines wolle der Rechtsanwalt festhalten:

"In den letzten zwei Jahren konnte ich mich nicht des Eindrucks erwehren, dass Staatsanwaltschaften und sogar Strafgerichte möglicherweise mit einer gewissen (voreingenommenen) Gesinnung an Verfahren gegen Kritiker von Coronamaßnahmen herangehen und dann nicht sorgfältig prüfen, ob die für eine Verurteilung erforderlichen Tatbestandsmerkmale erfüllt sind."

So habe er vor Gericht mehrfach erfahren, wie bei einer Anklage nach § 130 Absatz 3 überhaupt nicht geprüft wurde, ob das vorgeworfene Verhalten geeignet gewesen sei, den öffentlichen Frieden zu stören. Daher berge das geänderte Gesetz die Gefahr, dass Menschen, die nicht dem vorherrschenden Narrativ Folge leisteten und sich kritisch äußerten (etwa auf Versammlungen), im Rahmen dieses Gesetzes schnell in ein Ermittlungsverfahren oder sogar vor den Kadi gezogen werden könnten. Damit seien sie gegebenenfalls einer nicht auszuschließenden richterlichen Gesinnung ausgeliefert. Der Aufwand, solche erst einmal eingeleiteten Verfahren abzuwehren, sei für die Betroffenen mühsam, zeitaufwendig und oft nervenaufreibend. Zudem koste eine vernünftige Verteidigung auch Geld.

Aus diesen Gründen wirke sich trotz der zuvor genannten Hürden die Gefahr einer richterlichen Gesinnung im Sinne eines offiziellen Narratives stark auf die Einschränkung der Meinungsfreiheit aus. Nur aufgrund einer solchen Gefahr entfalte das Gesetz bereits eine einschüchternde Wirkung. Menschen, die nicht vor Gericht landen wollen, werden ihre abweichende Meinung zu vorherrschenden Kriegs-Narrativen unter Umständen lieber nicht mehr äußern.

Die einschränkende Wirkung auf die Meinungsfreiheit

Einerseits habe er in seiner Berufslaufbahn als Strafverteidiger noch nie eine so ungewöhnlich hohe Quote an Einstellungen beziehungsweise Freisprüchen erlebt wie in den letzten beiden Jahren, andererseits hätten die Staatsanwaltschaften viele Verhaltensweisen in Bezug auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit geahndet, die bei sauberer juristischer Prüfung keinen Tatbestand erfüllten und somit nicht strafbar gewesen seien. Viele Menschen würden angesichts von Rechtsunsicherheit das Risiko eines Strafverfahrens und den damit verbundenen Kosten verständlicherweise lieber meiden und auf ihre garantierten Meinungsrechte verzichten. Darin sehe Sattelmaier die größte Gefahr des neu eingeführten § 130 Absatz 5 StGB.

Aktuell könne sich das Gesetz bereits auf Äußerungen zu den Kriegsereignissen auswirken. Menschen trauten sich möglicherweise aus Angst vor Strafe nicht mehr, ihre Meinung zu sagen. 

Verfassungswidrigkeit des Gesetzes wegen unklaren Definitionen

Gleichzeitig bestehe noch eine weitere Gefahr, die bisher noch nirgendwo diskutiert worden sei: Diejenigen, die sich unbedacht zu einer Äußerung hinreißen ließen und sich politisch nicht auskennen – und das dürfte laut Sattelmaier die meisten Menschen betreffen – könnten jetzt massenhaft aufgrund einer Anmerkung vor Gericht landen. Das grundsätzliche Problem bei diesem Gesetz seien die nur schwer zu verstehenden und unbestimmten Tatbestandsmerkmale. Die Bürger verstünden bei diesem Gesetz nicht, welches konkret zu beschreibende Verhalten strafbar wäre.

Genau deswegen halte der Jurist das Gesetz für verfassungswidrig. Im § 130 Absatz 5 StGB gäbe es zu viele sogenannte unbestimmte Rechtsbegriffe. Damit widerspreche das Gesetz dem Bestimmtheitsgebot des Grundgesetzes und dem Rechtsstaatsprinzip.

Insofern gehe er davon aus, dass in absehbarer Zeit die Gerichte selbst dieses Gesetz dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorlegen werden. Jeder Strafrichter könne das tun, bevor er es in seinem Urteil anwendet.

Der Kölner Rechtsanwalt Dirk Sattelmaier ist seit 20 Jahren unter anderem als Strafverteidiger in eigener Kanzlei selbstständig. Während der vergangenen zweieinhalb Jahre hat er viele Strafverfahren übernommen, in denen seine Klienten mit einer abweichenden Meinung zum vorherrschenden Coronanarrativ wegen Straftaten nach dem Versammlungsgesetz, wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte und Volksverhetzung angeklagt waren. Dabei konnte er sich vielfach nicht des Eindrucks erwehren, dass sich die wahrzunehmende Einschränkung der Meinungsfreiheit möglicherweise auch auf die richterliche Gesinnung und die negativen Folgen für die Rechtsstaatlichkeit auswirkt. Auf seinem Telegramkanal schildert er in der Videoreihe "Neues aus dem Gerichtssaal" regelmäßig, wie es aktuell in unseren Gerichtssälen zugeht.

Quelle: RT DE

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