Der Wähler von heute: unberechenbar und mobil
Archivmeldung vom 07.01.2014
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 07.01.2014 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Manuel SchmidtWähler gelten heute als unberechenbar und launisch, aber auch als empfänglich gegenüber Lockrufen populistischer Alternativen. Die Wähler von heute sind Wechselwähler und entscheiden häufig erst an der Wahlurne, wem sie die Stimme geben. Die Mobilität der Wähler gehört zum politischen System der heutigen Bundesrepublik und ist das Ergebnis massiver Veränderungen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten abgespielt haben. Details beschreibt die Frankfurter Politikwissenschaftlerin, Prof. Sigrid Roßteutscher, in ihrem Beitrag in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Forschung Frankfurt mit dem Schwerpunktthema „Mobilität“.
In ihrer Diagnose des gesellschaftlichen Wandlungsprozesses spielen auch die massiven Veränderungen in der Medien- und Informationslandschaft eine entscheidende Rolle: Im Zuge der Liberalisierung des Medienmarkts ab 1990 nahm die Zahl der frei empfänglichen privaten Rund- und Fernsehkanäle explosionsartig zu, es folgte der Siegeszug des Internet sowie die Verbreitung der „social media“, was das potenzielle Angebot an Informationen drastisch ansteigen ließ. Dazu die Politikwissenschaftlerin er Goethe-Universität: „Die politischen Signale, die Bürger aus den Medien empfangen, sind somit weniger homogen und damit potenziell auch schwieriger einzuordnen und zu bewerten, als dies für lange Zeit der Fall war. Außerdem können Bürger, die sich nicht für Politik interessieren, intensiv andere Angebote in den vielfältigen Medien nutzen und Politik ausblenden.“
Für die Volksparteien sind die guten Jahre seit den 1990er vorbei: So sind beispielsweise immer weniger Arbeitnehmer gewerkschaftlich orientiert, weil viele klassische Arbeiterberufe verschwunden sind; damit schrumpft auch die Kernklientel der SPD. Ähnlich geht es der CDU/CSU, dort macht sich der Rückgang der aktiven Kirchgänger bemerkbar. „Diese sozialstrukturelle Veränderungen tragen zur Erosion traditioneller politischer Milieus bei, die über lange Zeit das Rückgrat der etablierten Parteien bildeten“, analysiert Roßteutscher.
Mit der schwindenden Bindungskraft der großen Parteien nimmt die Zahl neuer kleinerer Parteien zu, die sich nahe der Fünf-Prozent-Hürde bewegen – Ergebnis: die Fragmentierung des Parteiensystems. Im Zuge der deutschen Vereinigung etablierte sich über die SED, PDS dann schließlich „Die Linke“. Da die neue linke Partei ihre Klientel verstärkt im Osten hat, trug dies nachhaltig zur Regionalisierung des Parteiensystems. Die allmähliche Etablierung der Grünen und dann der Linkspartei führte zu einem graduellen Zuwachs der kleinen Parteien auf Kosten der Großparteien – zumindest bis zur Bundestagswahl im September. „Ob der erstaunliche Zuwachs der ‚Großen‘ bei der Bundestagswahl 2013 eine Trendumkehr signalisiert oder eher einmaliger Ausreißer ist, bleibt abzuwarten“, so die Wahlforscherin. Roßteutscher gehört zu den führenden bundesdeutschen Wissenschaftlern, die in der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten „Deutschen Nationalen Wahlstudie kooperieren.
In der „German Longitudinal Election Study“ (GLES), dem bislang umfassendsten und ehrgeizigsten Projekt der deutschen Wahlforschung, werden als Datenbasis Querschnitts- und sowohl kurz- als auch langfristige Längsschnittumfragen eingesetzt und mit einem Kandidatensurvey, einer Analyse von TV-Duellen sowie Inhaltsanalysen der Medienberichterstattung kombiniert. Mit Blick auf die Bundestagswahlen 2009, 2013 und 2017 untersucht die GLES, wie die mobilere Wählerschaft auf die Herausforderungen der neuen, sehr komplexen Konstellation elektoraler Politik reagiert. Bisher liegen intensive Untersuchungen zur Bundestagswahl 2009 vor, die Daten zu 2013 werden für die Analyse aufbereitet, eine erste gemeinsame Veröffentlichung zu den Besonderheiten dieser Wahl erscheint im Sommer 2014. Die Langfristperspektive wird dann vor allem nach der Bundestagswahl 2017, wenn Daten für drei aufeinanderfolgende Wahlen vorliegen, im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Analyse stehen. Drei von insgesamt neun Studienkomponenten der GLES werden unter Leitung von Roßteutscher an der Goethe-Universität realisiert. Zu den Kooperationspartnern gehören die Universität Frankfurt und Mannheim (Prof. Hans Rattinger, Prof. Rüdiger Schmitt-Beck) sowie das Wissenschaftszentrum Berlin (Prof. Bernhard Weßels) und das GESIS – Leibniz Institut für Sozialwissenschaften (Prof. Christof Wolf).
Festgesellt haben die Politikwissenschaftler und Soziologen auch, das mehr Parteien im Angebot nicht zu einer höheren Wahlbeteiligung führen. Gingen in den 1980er Jahren noch Bürger aller Schichten zur Wahl, sind es heute insbesondere die Wähler mit niedrigem Bildungsstatus, die zur stetig wachsenden Gruppe der Nichtwähler gehören. Dazu die Frankfurter Wissenschaftlerin: „Da die soziale Schere bei Jungwählern bis 29 Jahren noch sehr viel deutlicher zu erkennen ist als bei älteren Wählern, spricht viel dafür, dass diese Ungleichheit ein bleibendes Merkmal des politischen Systems Deutschlands wird.“ Die weiteren Untersuchungen der Wahlstudie werden auch darüber detaillierte Auskunft geben können.
Quelle: Goethe-Universität Frankfurt am Main (idw)