Giftbecher gehört nicht in Arztkoffer
Archivmeldung vom 06.11.2015
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDürfen Ärzte einem todkranken Menschen helfen, sein Leben zu beenden? Muss die kommerzielle Begleitung des Freitods erschwert werden? Diese Fragen diskutiert die Politik seit Jahren. Heute stimmt der Bundestag über vier Gesetzentwürfe ab - ohne Fraktionszwang. Der CDU-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, Rudolf Henke, stimmt mit ab. Seine Sorge ist: "Wird die ärztliche Begleitung des Suizids zur Norm, entsteht ein Sog zur Selbsttötung".
Der Bundestag steht nach Ansicht von Norbert Lammert vor der bedeutendsten Entscheidung dieser Legislaturperiode: der zur assistierten Selbsttötung. Kann es ein gutes Töten geben?
Rudolf Henke: Nein, das glaube ich nicht. Sicherlich kann es Situationen geben, in denen etwa ein Polizeibeamter ein Leben rettet, indem er einen anderen Menschen tötet. Und jenseits dieser Zusammenhänge von angedrohter und ausgeübter Gewalt in Notwehrsituationen gibt es kein gutes Töten.
Folgt man der Demoskopie, könnte man es sich leicht machen: Zwischen 67 und 83 Prozent der Bundesbürger sind für die Erleichterung der Suizidbegleitung. Sollten die Abgeordneten nicht einfach auf die Wähler statt auf ihr Gewissen hören?
Henke: Ich wundere mich schon, was unter Erleichterung der Suizidbegleitung verstanden wird. Denn es gibt in Deutschland keine Strafandrohung für die Beihilfe zum Suizid. Insofern ist schon erstaunlich, dass das natürliche Gefühl der Mehrheit offenbar in die Richtung geht, dass die Beihilfe zum Suizid verboten sei und Wege gefunden werden müssten, diese zu ermöglichen. Die Grundlagen der Entscheidung, die nun ansteht, sind offenbar nicht vollständig durchdrungen worden.
Ist die Debatte demnach überflüssig?
Henke: Nein, es gibt einen konkreten Anlass. Das ist das Wirken von Sterbehilfevereinen und einzelnen Personen, die anbieten - ja, fast damit werben - Sterbewilligen beim Suizid zu helfen. Der bekannteste dieser Vereine ist "Sterbehilfe Deutschland" vom ehemaligen Hamburger Innensenator Roger Kusch, der als Honorar für sein Gift 7000 Euro verlangt. Solchen Geschäften und Praktiken wollen wir ein Ende bereiten, gleichgültig, ob sie kommerziell oder im Gewand eines Vereins betrieben werden. Ich selbst bin nicht dafür, darüber hinaus das geltende Recht zu verändern?
Seit Einführung des Sterbehilfegesetzes in den Niederlanden stieg die Zahl der Fälle von 1800 im Jahr 2005 auf 5300 im Jahr 2014. Wie groß ist die Gefahr eines Dammbruchs durch eine sinkende Hemmschwelle?
Henke: Vielleicht ist das Wort "Dammbruch" zu stark, aber nach allen internationalen Erfahrungen steigen die Suizidzahlen nach solchen Entscheidungen an. Und das ist das Gegenteil unseres Zieles der Suizidprävention. Dabei muss man im Blick behalten, dass von den 100 000 Suizidversuchen jährlich in Deutschland lediglich jeder zehnte zum Ziel führt. Wenn wir die erfolgreiche Suizidprävention durch die Option auf Sterbehilfe aushebeln, steigt die Gefahr für viele Menschen, ihr Leben zu verlieren. Je stärker man die Sterbehilfe an schwere Krankheiten bindet, desto kleiner wird der Kreis. Folgt man aber dem Argument, es wäre eine autonome Entscheidung, wann man aus dem Leben scheiden will, desto stärker kommen die Menschen ins Blickfeld, die nicht krank sind, aber eine Bilanz ziehen und sich in einer ausweglosen Situation sehen: Arbeit verloren, Familie zerstört, vom Partner verlassen. Die Grundhaltung der Gesellschaft sollte sein, ihre Mitglieder bei sich behalten zu wollen. Dafür dürfen wir dem Suizid nicht den Charakter einer Dienstleistung geben. Wir tun gut daran, die Suizidprävention zu stärken und dazu passt es nicht, Wege zu schaffen, die die Selbsttötung möglichst einfach und erfolgsträchtig machen.
Wie groß ist die Gefahr, dass eine Beschneidung der Sterbehilfe einen Suizidtourismus in die Schweiz zu kommerziellen Anbietern auslöst?
Henke: Die Gefahr ist nicht übermäßig groß, weil diese Möglichkeit bereits besteht. Zumal wir in Deutschland voraussichtlich kein striktes Verbot der Beihilfe zum Suizid bekommen werden. Der entsprechende Gesetzentwurf wird vermutlich nicht die Mehrheit erhalten.
Wie oft entspringt der Wunsch nach Sterbehilfe eigentlich der Angst vor Schmerzen, der schon mit besserer Palliativmedizin begegnet werden kann?
Henke: Die größere Angst ist wohl die, zum Objekt fremder Entscheidungen herabzusinken. Dabei liegt die Zeit, in der Patienten sich tunlichst fügen sollten, wie zu Beginn meines Berufslebens in den 80er-Jahren, längst hinter uns. Heute muss niemand mehr eine Therapie erdulden, die er selbst ablehnt. Die Sorge ist dennoch verbreitet. Was geschäftsmäßige Suizidassistenten tun, ist etwas völlig anderes, als die zur Symptomkontrolle eingesetzte Sedierung oder Anästhesie im Verlauf einer Krankheit. Um die Erkenntnis zu verbreiten, dass der Patient auch am Ende seines Lebens nicht zum Objekt wird, muss das Gesetz nicht geändert werden. Da reicht es, die Möglichkeiten der Palliativmedizin bekannter zu machen.
Wie sehen die Ärzte die Bestrebungen, den Hippokratischen Eid, der jede Beteiligung an Selbsttötungen ausschließt, auszuhebeln?
Henke: Ich lehne diese Absicht, die in dem Entwurf von Peter Hintze und Prof. Lauterbach steckt, ab. Die Präsidenten der Landesärztekammern haben darauf hingewiesen, dass die Beihilfe zum Suizid keine ärztliche Aufgabe ist. Das macht klar, wie die Mehrheitsmeinung in der Ärzteschaft ist. Im Hintze/Lauterbach-Entwurf findet man die Formulierung: "Die Entscheidung über die Art, den Zeitpunkt und den Vollzug seiner Lebensbeendigung trifft der Patient. Der Vollzug der Lebensbeendigung durch den Patienten erfolgt unter medizinischer Begleitung." Da ist zu fragen, was medizinische Begleitung bedeuten soll, wenn etwa das vom Patienten eingenommene Gift nicht zum Tod führt, weil er sich erbrochen hat oder weil es nicht ausreichend wirkt? Dann würden doch alle auf den Arzt gucken, in der Erwartung, dass er etwas tut. In dieser Situation würde der Arzt zum Erfolgsgaranten für den Suizid und dies würde die Tür öffnen zur Tötung auf Verlangen. Das würde den Charakter der beruflichen Tätigkeit weit über die Frage der Beihilfe zum Suizid hinaus verändern.
Ist es gefährlich für den Ärzteberuf, wenn er vom Bewahrer des Lebens zum Herrn über das Leben ernannt wird?
Henke: Es entspricht nicht der Rolle, die der Arzt einnehmen soll. Ärzte sollen Leben retten, Gesundheit erhalten, Krankheit heilen, Leiden lindern und Sterbenden beistehen. Die Qualität der Versorgung am Lebensende hängt doch nicht davon ab, ob genügend Giftbecher gereicht werden, sondern ob es genügend Menschen gibt, die es als Freunde, als ehrenamtlich Tätige oder als Ärzte bei Sterbenden aushalten. Sie hängt davon ab, ob wir Angehörigen ermöglichen, in dem Teil des Lebens ihre Rolle zu spielen, den wir das Sterben nennen. Sie hängt davon ab, ob es genügend Personal in den Krankenhäusern gibt. Und diese wichtigen Fragen werden verschüttet.
Haben wir verlernt, dass Leid und die dunkle Phase des Sterbens zum Leben dazugehören?
Henke: Zumindest ist es in der Gesellschaft nicht mehr selbstverständlich, den Tod als eine Art Pforte zu betrachten, hinter der sich das Leben in einem anderen Aggregatzustand fortsetzt. Wer daran glaubt, für den hat der genaue Zeitpunkt des Todes weniger Bedeutung als für denjenigen, der davon ausgeht, dass seine Existenz in diesem Moment endet. Weil viele so denken, versuchen wir mit den Möglichkeiten der Medizin, aus dem Potenzial unseres Lebens auch noch das letzte Quäntchen herauszuholen. Wir brauchen eine Debatte, ob Todesverhütung, die uns doch nie gelingt, ein zentrales Ziel der Medizin sein kann. Es geht vielmehr um Lebensermöglichung - auch im Angesicht von Leiden.
In den 20er-Jahren wurde in Deutschland über "lebensunwertes Leben" und "Ballast-existenzen" diskutiert. Begibt sich eine Gesellschaft wie die heutige, die Leistung fetischisiert, mit der Sterbehilfe auf eine schiefe Ebene? Steigt der Druck auf Menschen, die sich als Last empfinden, ein Ende zu machen?
Henke: Keiner von den Politikern, die jetzt die Beihilfe zum Suizid gesetzlich regeln wollen, strebt Derartiges an. Andererseits muss man sehen, dass auch das Unheil, das die Nationalsozialisten über uns gebracht haben, in der medizinischen Diskussion der Eugenik von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts vorbereitet worden ist. Wenn es also eine Option wird, auf eigenen Wunsch aus dem Leben auszuscheiden, weil man angeblich kein fortsetzungswürdiges Leben mehr führen kann, liegt darin zweifellos eine Ansteckungsgefahr. Es hat sich eine Verachtung breitgemacht für Lebenssituationen, in denen man auf fremde Hilfe angewiesen ist. Menschen haben mir gesagt: "Ich ertrage es nicht, dass man mir bei der Notdurft hilft, dass ich gefüttert werde". Dabei kommen wir in genau dieser Situation auf die Welt: nackt, blutig, bloß, dem Tod ausgeliefert, wenn uns keiner helfen würde. Deshalb kann man auch am Lebensende seine Würde nicht verlieren, weil man auf Hilfe angewiesen ist. Wer behauptet, dass Menschen ihre Würde verlören, weil sie ihr Leben nicht in voller Leistungskraft führen, weil sie andere nötig haben, bringt damit verletzliche, schwache Menschen in schwierige Verhältnisse, vermittelt ihnen, dass er sich der Gemeinschaft mit ihnen entzieht.
Darf die Sterbehilfe gerade wegen des drohenden Pflegenotstandes nicht erleichtert werden, in dem sich noch mehr Menschen als Last empfinden werden?
Henke: Je mehr die Sterbehilfe zu einer gesellschaftlich anerkannten, normalen Option wird, umso größer ist die Gefahr, die Sie schildern. Dann kann bei Menschen das Gefühl entstehen, zur Last für andere zu werden. Anders gesagt: Weil ich nicht mehr so viel beisteuern kann, soll ich sterben wollen.
Für welchen der vier Entwürfe werden Sie stimmen?
Henke: Ich finde, dass die geschäftsmäßige Hilfe bei der Selbsttötung durch Vereine unterbunden werden muss. Ansonsten sehe ich keine Notwendigkeit für eine gesetzliche Änderung und stimme deshalb für den Entwurf Brand/Griese.
Das Interview führte Joachim Zießler
Quelle: Landeszeitung Lüneburg (ots)