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Neuer Ansatz zu Verständnis und Therapie der Schlafkrankheit

Archivmeldung vom 03.11.2007

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 03.11.2007 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Bisher verläuft die von den Einzeller ausgelöste Schlafkrankheit unbehandelt stets tödlich. Bild: Markus Engstler / TU Darmstadt
Bisher verläuft die von den Einzeller ausgelöste Schlafkrankheit unbehandelt stets tödlich. Bild: Markus Engstler / TU Darmstadt

Wissenschaftler der TU Darmstadt um Prof. Dr. Markus Engstler vom Institut für Mikrobiologie und Genetik haben in Kooperation mit dem Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation Göttingen Forschungsergebnisse erzielt, die es ermöglichen könnten, mittelfristig die Schlafkrankheit zu heilen.

Trypanosoma brucei, der im Blut lebende Erreger der Schlafkrankheit Bild: Markus Engstler / TU Darmstadt
Trypanosoma brucei, der im Blut lebende Erreger der Schlafkrankheit Bild: Markus Engstler / TU Darmstadt

Der Schlafkrankheit fallen in den Tropen nach wie vor jährlich Tausende Menschen zum Opfer und gehört heute zu den gefährlichsten "vergessenen Krankheiten". Über 60 Millionen Afrikaner südlich der Sahara leben in akuter Gefahr, durch den Biss der Tsetse-Fliege mit dem Erreger, dem Einzeller Trypanosoma brucei, infiziert zu werden.

Bis heute war unklar, wie die Trypanosomen angesichts der ständig steigenden Mengen von Antikörpern im Blut des Menschen überleben können. Das Biologenteam unter Leitung von Prof. Engstler konnte nun zeigen, dass Antikörper, die an der Oberfläche der Erreger andocken, mit großer Geschwindigkeit zum hinteren Ende der spindelförmigen Parasiten transportiert werden, wo sie rasch von den Zellen aufgenommen und verdaut werden: Der Einzeller frisst die für ihn tödlichen Antikörper.

Wie aber funktioniert dieser Transport? Die Hypothese, die von Markus Engstler und Peter Overath von der Universität Tübingen entwickelt wurde, ist ebenso einfach wie provokant: Trypanosomen schwimmen ohne Unterlass und stets in eine Richtung. Die Bewegung der Zellen erzeugt eine Strömung, die über die sehr glatte Oberfläche der Einzeller streicht. Binden dort Antikörper, dann bieten sie der Strömung Widerstand und werden vom "Fahrtwind" nach hinten getrieben: exakt in Richtung Zellmund, wo sie gefressen werden und keine Meldung mehr an das Immunsystem machen können. Antikörper auf der Zelloberfläche von Trypanosomen funktionieren also gewissermaßen wie "molekulare Segel".

Das Darmstädter Biologenteam um Markus Engstler prüfte diese "Segel-Hypothese" durch eine Vielzahl von Experimenten, deren Grundlagen er am Institut für Mikrobiologie und Genetik der LMU München legte, wo er bis Anfang 2006 geforscht hatte. Einen wichtigen Beitrag lieferte auch Geert Wiegertjes vom Wageningen Institute for Animal Sciences (Niederlande) der sehr große Antikörper gegen Trypanosomen herstellte. Die Experimente bestätigten die These: Je größer die Antikörper sind, desto ausgeprägter ist der Effekt.

Kann aber dieser Fahrtwind-Effekt bei Objekten von der Größe eines Moleküls wirklich funktionieren? Ist diese an der Alltagswelt geschulte Anschauung auf der molekularen Skala überhaupt gültig? Thomas Pfohl und Stephan Herminghaus vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen haben diese Frage mathematisch betrachtet, im Computer simuliert und mit einem überraschend deutlichen "Ja!" beantwortet.

Der experimentelle Beweis gelang wiederum in der Gruppe von Markus Engstler. Mithilfe der sogenannten "RNA-Interferenz", eines genetischen Tricks, für den es erst im letzten Jahr den Nobelpreis für Medizin gab, wurde den Trypanosomen beigebracht, den Rückwärtsgang einzuschalten. Das Resultat war so einfach wie überzeugend: Statt nach hinten zum "Maul" der Zelle zu wandern, schwammen die Antikörper jetzt zur Vorderseite der Zelle, genau wie es bei der Segel-Hypothese zu erwarten war.

Es scheint nun klar, warum Trypanosomen niemals aufhören (vorwärts) zu schwimmen, auch wenn sie im viel schneller strömende Blut des Menschen kaum vorankommen: Sie schwimmen um ihr Leben. Aus dieser Erkenntnis ergeben sich unmittelbar neue Therapieansätze: Wenn die Trypanosomen am Schwimmen gehindert werden könnten, wären sie dem Immunsystem hilflos ausgeliefert. Genau hier greifen die neuesten Experimente der Darmstädter Genetiker an, die auch in Zusammenarbeit mit Forschern in Kenia durchgeführt werden sollen.

Hintergrund

Die Hypothese, dass hydrodynamische Kräfte tatsächlich Moleküle in biologischen Membranen bewegen können, erschien den Forschern zunächst sehr unwahrscheinlich und war zuvor auch noch nie postuliert worden. Grund dafür sind die besonderen physikalischen Bedingungen an Grenzflächen im molekularen Maßstab. Hier sollte nach allgemeiner Auffassung der Fachwissenschaftler "hydrodynamische Flaute" herrschen.

Die Hypothese hat weit reichende Konsequenzen, denn Strömungen umgeben nahezu alle Zellen. Bewegen sich etwa auch auf der Oberfläche der sogenannten Epithelzellen, die das Blutgefäßsystem auskleiden, große Proteine im Strom des Blutes? Können so Informationen zum Beispiel über die Strömungsgeschwindigkeit des Blutes empfangen und weitergeleitet werden?

Als Markus Engstler die Ergebnisse der Forschungsarbeiten und die "Molecular Sail Hypothesis" bei dem renommierten Journal "Cell" zur Publikation einreichte, waren die Gutachter geteilter Meinung: einerseits euphorisch, andererseits ungläubig. Die Herausgeber forderten weitere Beweise. Engstler entwarf dazu die RNA-Interferenz-Experimente, die im Frühsommer 2007 vom Darmstädter Doktoranden Niko Heddergott durchgeführt wurden.

Dass die Tsetse-Fliege den Erreger überträgt, entdeckte vor etwa 110 Jahren der englische Stabsarzt Sir David Bruce. In den folgenden Jahrzehnten wurde eine Vielzahl hochkarätig besetzter Expeditionen nach Afrika entsandt, deren Ziel es war, die Seuche und ihre Ursachen zu erforschen. Die deutschen Expeditionen wurden von Robert Koch angeführt. Auch Paul Ehrlich und andere prominente Mikrobiologen versuchten den Trypanosomen ihr Geheimnis zu entlocken, allerdings vergeblich. Albert Schweitzer baute sein berühmtes Dschungel-Hospital 'Lambarene', um die furchtbaren Symptome der Erkrankung vor Ort zu lindern.

In den letzten 20 Jahren hatte die Forschung gezeigt, dass bei dem Erreger der Schlafkrankheit die gesamte Zelloberfläche von einem dichten Mantel aus zehn Millionen Kopien einer einzigen Art von Proteinen bedeckt ist. Das Immunsystem des Wirts bildet Antikörper gegen diese "variant surface glycoprotein" (VSG) genannten Proteine und zerstört so fast alle Trypanosomen. Einige Parasiten aber überleben, indem sie einen neuen Mantel aus einem strukturell sehr ähnlichen, für das Immunsystem aber noch unbekannten Protein bilden.

Diese Zellen vermehren sich und erzeugen so eine neue parasitäre Welle, bevor sie wiederum vom Immunsystem eliminiert werden. Aus Sicht der Trypanosomen kann dieses "Spiel" fast unbegrenzt fortgesetzt werden, denn die Zellen können aus einem Repertoire von etwa tausend unterschiedlichen VSG-Genen wählen. Für den infizierten Menschen aber endet die Infektion nach kurzer Zeit tödlich.

Heute, ein Jahrhundert nach der Entdeckung des Übertragungsweges, ist die Schlafkrankheit noch immer eine Seuche der Ärmsten. Migration und Vertreibung sorgen dafür, dass die Erkrankung ständig an neuen Orten und unvorhersehbar aufflackert. Die Infektion ist sehr schwer zu diagnostizieren und verläuft unbehandelt in jedem Fall tödlich - im Gegensatz zu Malaria oder Tuberkulose.

Die wenigen, verfügbaren Medikamente stammen zum Teil noch aus Kolonialzeiten und sind extrem toxisch. Einen Impfstoff wird es aufgrund der antigenen Variabilität der Parasiten möglicherweise niemals geben. Seit Jahren führen die "Ärzte ohne Grenzen" einen noch immer zu einsamen Feldzug für den Zugang zu besseren Medikamenten.

Originalpublikation:
M. Engstler, T. Pfohl, S. Herminghaus, M. Boshart, G. Wiegertjes, N. Heddergott, P. Overath, Hydrodynamic flow-mediated protein sorting on the cell surface of trypanosomes, Cell 131, Nr 3, 505-515 (2. November 2007).

Quelle: Pressemitteilung Informationsdienst Wissenschaft e.V.

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