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Geht Studieren auf die Nerven?

Archivmeldung vom 01.07.2011

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 01.07.2011 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Bild: RainerSturm  / pixelio.de
Bild: RainerSturm / pixelio.de

Liegen an den Universitäten die Nerven blank? Das könnte man zumindest bei näherer Betrachtung der Arzneimittelverordnungen für Studierende in Deutschland vermuten. Nach Angaben des aktuellen Gesundheitsreports der Techniker Krankenkasse (TK) entfällt der größte Anteil der an Hochschüler verschriebenen Medikamente auf Präparate zur Behandlung des Nervensystems. Allein in den letzten vier Jahren verzeichnete die TK in dieser Arzneimittelgruppe einen Anstieg des Volumens von 54 Prozent.

Statistisch gesehen erhielt jeder Studierende 2010 insgesamt für 65 Tage Medikamente. Damit liegt das Verordnungsvolumen zwar unter dem ihrer erwerbstätigen Altersgenossen mit 72 Tagesdosen. Auffällig ist jedoch, dass Psychopharmaka und Co. bei den Hochschülern über ein Fünftel aller verschriebenen Medikamente ausmachen. Bei den gleichaltrigen Beschäftigten entfallen "nur" knapp 14 Prozent der Arzneien auf diese Gruppe, die aber auch hier inzwischen den größten Anteil ausmacht.

Professor Dr. Norbert Klusen, Vorsitzender des TK-Vorstandes: "Die Krankenkassen werten für ihre Gesundheitsberichterstattung üblicherweise vor allem die Krankschreibungen aus, die jedoch nur für sozialversicherungspflichtig Beschäftigte und ALG-I-Empfänger erhoben werden. Daher wird über die gesundheitliche Situation der Hochschüler wenig gesprochen. Wir haben hier zum zweiten Mal nach 2008 die Rezepte der bei uns versicherten Studierenden ausgewertet und betrachten mit Sorge das auffällig hohe Volumen bei den Psychopharmaka."

Nicht nur das Arzneimittelvolumen, sondern auch der Anteil der medikamentös behandelten Studierenden ist gestiegen. "Eine erhebliche Zunahme gibt es hier insbesondere bei Medikamenten zur Behandlung von Depressionen. Der mit Antidepressiva behandelte Anteil der Studierenden stieg seit 2006 um mehr als 40 Prozent", erklärt Dr. Thomas Grobe vom Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung in Hannover (ISEG), der die Daten für die TK ausgewertet hat.

Neben den Arzneimitteldaten hat die TK auch die Diagnosedaten von 135.000 bei der TK eigenständig versicherten Studierenden ausgewertet.

Sie zeigen, dass Studierende zwar deutlich mehr Psychopharmaka verordnet bekommen als ihre erwerbstätigen Altersgenossen, in beiden Gruppen wurden aber insgesamt etwa gleich häufig psychische Störungen diagnostiziert. Bei knapp 30 Prozent der jungen Frauen zwischen 20 und 34 Jahren wurde mindestens einmal eine psychische Diagnose gestellt, junge Männer waren mit einem Anteil von 13,4 Prozent bei den Studenten und 12,5 Prozent bei den Beschäftigten deutlich weniger betroffen. Klusen dazu: "Wenn drei von zehn jungen Frauen im Jahr eine psychische Diagnose gestellt bekommen, muss man sich nicht nur über die Zunahme psychischer Störungen Gedanken machen, sondern auch darüber, wo die Grenze zwischen gesund und krank gezogen wird und ob es hier auch ein Etikettierungsproblem gibt."

Nach Angaben der TK erhalten mittlerweile gut fünf Prozent der Studentinnen und knapp drei Prozent der Studenten Antidepressiva. In einem Hörsaal mit 400 Plätzen, der von beiden Geschlechtern gleichermaßen besucht wird, bekommen also 16 Hochschüler regelmäßig Antidepressiva, 44 Prozent mehr als im Jahr 2006. "Steigen die Antidepressiva-Verordnungen in diesem Maße weiter, bekommen spätestens im Jahr 2046 alle Vorlesungsteilnehmer ein Antidepressiva-Rezept", so Klusen.

Dabei nehmen die Diagnosen psychischer Störungen bei Studierenden mit steigendem Alter erheblich stärker zu als bei Berufstätigen: Während die Diagnoseraten bei angehenden Akademikern zwischen 20 und 25 sogar leicht unter denen gleichaltriger Beschäftigter liegen, kehrt sich das Verhältnis ab dem 27. Lebensjahr um. Von den 30-jährigen Hochschülern wurde für 17 Prozent der Männer und 36 Prozent der Frauen mindestens einmal eine psychische Diagnose gestellt. "Dies könnte damit zusammenhängen, dass mit steigendem Alter der Druck steigt, das Studium zu beenden. Zudem ist in dieser Altersgruppe der Anteil Studierender, die durch Jobs und Familie mehrfach belastet sind, größer", vermutet Heiko Schulz, Diplom-Psychologe bei der TK.

Die psychische Gesundheit der Studierenden und jungen Beschäftigten ist laut TK regional sehr unterschiedlich belastet. Im Hinblick auf Depressionen besteht sowohl ein West-Ost-Gefälle, das heißt junge Menschen in den neuen Ländern sind deutlich seltener von der Diagnose Depression betroffen, als auch ein Stadt-Land-Gefälle, da die Stadtstaaten Hamburg, Berlin und Bremen überdurchschnittlich hohe Diagnoseraten aufweisen. Verhältnismäßig geringe Verordnungsraten an Antidepressiva in den Stadtstaaten dürften mit der guten Erreichbarkeit von Psychotherapeuten zusammenhängen. "Insgesamt lässt sich über fast alle Länder hinweg beobachten: Je größer das psychotherapeutische Angebot vor Ort, desto größer sind auch die Behandlungsraten", so Dr. Grobe. "Lediglich in Sachsen steigt die Inanspruchnahme der Therapie überdurchschnittlich im Vergleich zum Behandlungsangebot."

Datenbasis:Für die Sonderauswertung zur Gesundheit von Studierenden hat die TK die Arzneimittelverordnungen der Studierenden zwischen 20 und 35 Jahren mit eigener TK-Mitgliedschaft analysiert. Da Studierende im Rahmen der Familienversicherung bis zum 25. Lebensjahr bei den Eltern und ohne Altersbegrenzung bei den Ehepartnern mitversichert sind, erfasst die TK-Studie nur die Studierenden mit eigener Mitgliedschaft. Die Daten der insgesamt 135.000 TK-versicherten Studierenden wurden jedoch geschlechts- und altersstandardisiert. Das Durchschnittsalter in den Vergleichsgruppen liegt bei 26,8 Jahren. Neben den Arzneimitteldaten analysierte die TK auch ambulante Diagnosedaten. Da diese erst zeitverzögert an die Krankenkasse übermittelt werden, beziehen sich diese Daten auf das Jahr 2009.

Quelle: Techniker Krankenkasse (TK)

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