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Stress im Mutterleib und im frühen Kindes-alter beeinträchtigt die Gehirnentwicklung

Archivmeldung vom 12.07.2006

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 12.07.2006 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt

Stress, Vernachlässigung und Misshandlung im Kindesalter beeinträchtigen die Entwicklung. Auch wenn Ungeborene im Mutterleib Stress empfinden, hat dies Folgen: Vor allem beim männlichen Geschlecht stört vorgeburtlicher Stress die Entwicklung der Nervenzellen im Emotionssystem.

Dies belegen Untersuchungen an Ratten, die Professor Katharina Braun von der Universität in Magdeburg auf dem Forum der europäischen Hirnforscher in Wien präsentiert.

Stress, Vernachlässigung und Misshandlung im Kindesalter hinterlassen tiefe Spuren. Schwere und bleibende Defizite von Sprache und Persönlichkeitsentwicklung sind die Folge, die intellektuellen und sozialen Fähigkeiten der Kinder sind beeinträchtigt. Das belegen klinische Studien.

Das Team von Professor Katharina Braun von der Abteilung für Zoologie und Entwicklungs-Neurobiologie der Universität in Magdeburg (Deutschland) untersucht den Einfluss dieser Schadfaktoren auf die Gehirnentwicklung und das Verhalten bei Laborratten und Strauchratten (Octodon degus), nahen Verwandten des Meerschweinchens.

Die Ähnlichkeit der frühen Kindheit sowie die familiären Bedingungen unter denen kleine Strauchratten aufwachsen, ist der Grund für die Vorliebe der Wissenschaftler für die possierlichen Tiere. "Werden diese Tiere geboren, befinden sie sich in etwa auf dem Entwicklungsstand eines menschlichen Säuglings", erklärt Katharina Braun.

Der Reifegrad von Rattenbabys bei der Geburt ist hingegen eher mit dem menschlicher Frühgeborener vergleichbar. Strauchratten werden - im Gegensatz zu Laborratten - darüber hinaus von Vater und Mutter gemeinsam erzogen und sind äußerst kommunikativ: Sie verständigen sich intensiv durch Pfeiflaute.

Werden die Jungen von ihren Eltern getrennt, können die Wissenschaftler die Wirkung am Gehirn ablesen: In verschiedenen Regionen, darunter auch in den Emotionszentren (cingulärer Cortex), vermindert sich der Stoffwechsel. "Dauert diese streßinduzierte Senkung der Gehirnaktivität über längere Zeit an", vermutet Braun, "wirkt sich dies auf die strukturelle Entwicklung der Schaltkreise im Gehirn negativ aus."

Tatsächlich zeigen weitere Untersuchungen der Forscher an den Tieren, dass selbst milder Stress bereits strukturelle "Spuren" im kindlichen Gehirn hinterläßt. Werden die Jungen einmal täglich für eine Stunde von den Eltern getrennt, oder erhalten täglich eine Injektion von Kochsalzlösung, verändert dies Struktur und Verschaltungen der Nervenzellen. Der kurze Entzug der elterlichen Zuwendung führt dazu, dass der Nachwuchs mehr Synapsen (Verknüpfungsstellen) zwischen Nervenzellen bildet als Kontrolltiere.

Die Injektion reduziert hingegen die Zahl der Synapsen. "Dies macht deutlich, dass die Art des Stresses eine wesentliche Rolle für die "Emotionszentren" des kindlichen Gehirns spielt", sagt Braun.

Auch wenn die Jungen vaterlos aufwachsen - in diesem Fall zeigen die "verlassenen" Mütter keine verstärkte mütterliche Fürsorge als Kompensation für den fehlenden Vater - bilden die Tiere weniger Synapsen als Kontrolltiere. "Dies kann darauf hindeuten", erklärt Braun, "dass Tiere, die weniger emotionale Zuwendung erhalten, weniger Synapsen in den Emotionszentren des Gehirns bilden. Die Folge davon könnte sein, dass diese Tiere eine andere Emotionalität entwickeln". Auch Streß gekoppelt mit körperlichem Unbehagen - der Piks der Injektion - würde sich dann ebenfalls analog negativ auswirken.

Hingegen kann der synaptische Zuwachs bei den Jungen, die kurzzeitig auf die Eltern verzichten müssen, vielleicht sogar positiv sein. Dies müssen die Forscher noch in weiteren Studien klären. "Denn nicht nur die Quantität der Synapsen, sondern vor allem ihre Qualität im Netzwerk bestimmen die späteren kognitiven und emotionalen Kapazitäten", sagt die Magdeburger Wissenschaftlerin.

Aus ihren Untersuchungen mit Strauch- und Laborratten wissen die Forscher auch, dass Stress in unterschiedlichen Phasen der Entwicklung unterschiedliche Auswirkungen haben kann. So gibt es beispielsweise bei Laborratten ein Zeitfenster in den ersten Tagen nach der Geburt, in dem das körpereigene Stress-System noch nicht aktiv ist: Stresshormone werden daher nicht produziert. "Diese Hormone entfalten ihre Wirkung auch im Gehirn", erklärt Braun. Werden ganz junge Ratten, deren Stress-System noch "schläft", von ihrer Mutter kurzfristig getrennt, wirkt sich das nicht auf die Entwicklung der Nervenzellen und ihren Synapsen aus. Dies ist erst dann der Fall, wenn das Stress-System der Tiere - etwa zehn bis 14 Tage nach der Geburt - aktiv wird.

Stress und Belastung können sogar schon im Mutterleib die Gehirnentwicklung beeinflussen. Das belegen die neuesten Untersuchungen des Teams von Katharina Braun zusammen mit israelischen Wissenschaftlern an der Universität von Jerusalem.

Werden Rattenmütter im letzten Schwangerschaftsdrittel unter Stress gesetzt, dem sie nicht ausweichen können, sondern hilflos und unvorhersehbar ausgeliefert sind, leidet auch der Nachwuchs. Die Nachkommen dieser Mütter sind später ängstlicher, und sie zeigen eine erhöhte Anfälligkeit für depressive oder schizophrene Störungen.

Die Stress-Spuren im Gehirn der jungen, im Mutterleib gestressten Laborratten sind ebenfalls nachweisbar: Die Synapsenzahl im cingulären und orbitofrontalen Cortex - zwei "Emotionsregionen" - ist deutlich niedriger. Darüber hinaus bilden die Nervenzellen männlicher Rattenjungen - aber nicht die von weiblichen - im Emotionssystem des Stirnlappens, dem präfrontalen Cortex, kürzere Dendritenbäume. Dendriten sind die Ausläufer von Nervenzellen, auf die andere Nervenzellen über Synapsen ihre Informationen übertragen. "Die Ausbildung dieser Dendriten ist vermutlich ein Maß für die Kapazität des Gehirns zur Informationsübertragung", erklärt Braun. Je länger und verzweigter die Dendriten sind, desto mehr Information können die dazugehörigen Nervenzellen von anderen Zellen aufnehmen und verarbeiten.

Der präfrontale Cortex ist jener Bereich des Gehirns, der erst weit nach der Geburt reift. Beim Menschen ist diese Entwicklung beispielsweise erst um das 20. Lebensjahr herum abgeschlossen. Auch bei Ratten und andere Säugetieren ist dieser Teil des Cortex ein "Spätentwickler". Die Dendriten der Nervenzellen in diesem Gehirnareal beginnen erst nach der Geburt zu sprießen. "Es scheint, als würden sich die Nervenzellen den Stress, dem das Tier im Mutterleib ausgesetzt war, "merken" und anstelle eines gut entwickelten Dendritenbaums nur kurze Stummel entwickeln", sagt Braun. Wie dieses zelluläre Gedächtnis funktioniert, ist allerdings noch weitgehend unerforscht.

Quelle: Pressemitteilung Informationsdienst Wissenschaft e.V.

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