Altersblindheit: Ein unkontrolliertes Therapie-Experiment missachtet die Rechte von Patienten auf eine geprüfte Behandlung
Archivmeldung vom 15.07.2009
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Freigeschaltet durch HBEine Stellungnahme des Sozialgerichtes Nordrhein-Westfalen sowie eine kritische Analyse des unabhängigen Arzneimittel-Telegramms bestätigen jetzt die Kritik der Patientenorganisation PRO RETINA Deutschland e.V. an der Versorgung von Patienten, denen Altersblindheit droht. Krankenkassen lehnen die Kostenübernahme für die zugelassene Therapie ab und fordern die Patienten stattdessen auf, sich bei "Vertragsärzten" behandeln zu lassen.
Dort wird den Patienten ein Krebsmedikament in den Augapfel injiziert, das für diese Indikation nicht zugelassen aber sehr viel billiger ist, und das nach einhelliger Meinung von Experten aus Gründen der Arzneimittelsicherheit allenfalls im Rahmen klinischer Studien eingesetzt werden dürfte. "Was derzeit in Deutschland geschieht, ist ein unkontrolliertes Experiment mit hilflosen Patienten, deren Rechtsanspruch auf eine geprüfte Therapie missachtet wird", kritisiert Ute Palm, Vorstandsmitglied von PRO RETINA Deutschland e.V. Darum begrüßt die Patientenorganisation, dass diese Praxis nicht nur von den Betroffenen, sondern zunehmend auch von anderen Institutionen kritisiert wird.
In Deutschland erfahren täglich schätzungsweise 130 Menschen, dass ihnen Erblindung droht: Sie leiden an der feuchten altersabhängigen Makula-Degeneration (AMD). Jährlich erkranken an diesem Augenleiden hierzulande etwa 50.000 zumeist ältere Patienten.
Seit einigen Jahren ist die Augenkrankheit behandelbar - wenn die Therapie in der Frühphase erfolgt. Die Injektion eines Medikamentes in den Augapfel kann den Sehverlust stoppen und die Sehfähigkeit sogar wieder verbessern. Doch von Beginn an verhindert ein Streit zwischen Krankenkassen, Ärzten und Pharmaindustrie über Arzneimittelpreise und Arzthonorare den unbürokratischen Zugang zu dieser Therapie.
Win-win-Situation für Krankenkassen und Arztgruppen, nicht für Patienten
Für bestimmte Arztgruppen und Krankenkassen, die besondere Verträge miteinander abgeschlossen haben, ermöglicht diese Gemengelage, unter der die Patienten leiden, indes eine finanzielle win-win-Situation. Treten Ärzte einem solchen Vertrag bei, müssen sie aufgrund der pauschalen Vergütung der Behandlung das billigere, aber für diese Indikation nicht zugelassene Medikament mit dem Wirkstoff Bevacizumab (Handelsname: Avastin) injizieren - und sichern sich damit gleichzeitig einen höheren Verdienst als wenn sie die zugelassene Substanz einsetzen. Die Kassen sparen durch ihre Umlenkungspraxis die Kosten des teureren zugelassenen Wirkstoffes Ranibizumab (Handels-name: Lucentis): sie lehnen die Übernahme der Behandlungskosten mit Lucentis ab und fordern die Patienten auf »Vertragsärzte« zu konsultieren
Selbstverwaltung ist an einer Lösung des Problems nicht interessiert.
"Diese Situation sorgt dafür, dass die Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen kein Interesse daran hat, die Probleme der Patienten zu lösen. Das System hat versagt", kritisiert Gretel Schmitz-Moormann, AMD-Patientensprecherin von PRO RETINA Deutschland e.V. Stattdessen werde mit falschen Zahlenangaben operiert, um in der Öffentlichkeit Verständnis für dieses Vorgehen zu erwecken.
"Auch unsere Patientenorganisation wünscht sich eine Behandlung, die das Solidarsystem der gesetzlichen Krankenversicherung nicht überfordert. Doch die politische Auseinandersetzung über Arzneimittelpreise darf nicht auf dem Rücken der Patienten ausgetragen werden", betonen Palm und Schmitz-Moormann. Studien, welche die Wirksamkeit von Avastin und Lucentis miteinander vergleichen, werden frühestens 2011 zur Verfügung stehen.
Patienten sind hilflos.
Der Patientenorganisation liegen inzwischen zahlreiche Fälle von Patientinnen und Patienten vor, die sich in der momentanen Situation nicht mehr zu helfen wissen und denen die Zeit davonläuft: Sie standen oder stehen vor der Entscheidung, sich entweder der schnellen Behandlung mit dem nicht zugelassenen Medikament zu unterziehen oder im Verlaufe einer langen Auseinandersetzung mit ihrer Krankenkasse das Fortschreiten ihrer Erkrankung hinzunehmen - und damit das Risiko einzugehen, zu erblinden. Denn im Spätstadium der Erkrankung ist die Behandlung wirkungslos.
Patientenorganisation spricht von »Skandal«.
Diese Situation bezeichnet PRO RETINA Deutschland e.V. als skandalös. "Wir fordern angesichts der aktuellen Entwicklung und den kritischen Analysen von allen Beteiligten - von Krankenkassen, Ärzten und Pharmaindustrie - erneut intensive Bemühungen, einen tragfähigen Kompromiss zu finden, der Patienten den Zugang zur qualitätsgesicherten Therapie zu vertretbaren Kosten für die Solidargemeinschaft ermöglicht", erklären Gretel Schmitz-Moormann und Ute Palm. So habe beispielsweise der AOK-Bundesverband mit dem Hersteller eines der beiden zugelassenen Medikamente einen Rahmenvertrag abgeschlossen, der die Kostenübernahme regelt und eine Ausgabenobergrenze vorsieht. "Allerdings sind bislang nur sechs AOK-Landesverbände diesem Rahmenvertrag beigetreten", kritisiert Schmitz-Moormann.
Gefordert ist nach Meinung der Patientenorganisation auch die Politik, die Rechte von Patienten nicht mehr länger nur in Sonntagsreden zu betonen, sondern diese durch alle dazu erforderlichen Maßnahmen auch endlich durchzusetzen.
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Die PRO RETINA Deutschland e.V. - Selbsthilfevereinigung von Menschen mit Netzhautdegenerationen - wurde 1977 von Betroffenen und deren Angehörigen als gemeinnütziger Verein gegründet, um sich selbst zu helfen. Es ist eine bundesweit tätige Organisation mit derzeit 64 Regionalgruppen und mehr als 6.000 Mitgliedern. Sie bietet Informationen und Beratung und versteht sich als Interessenvertretung der Patientinnen und Patienten in der Öffentlichkeit. Um einen Beitrag zur Entwicklung wirksamer Therapien zu leisten, engagiert sich PRO RETINA Deutschland e.V. auch in der Forschungsförderung.
Quelle: PRO RETINA Deutschland e.V.