Forscher: Darum können manche Blinde sehen
Archivmeldung vom 13.08.2020
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittBei Experimenten haben Wissenschaftler nachweisen können, dass nach einem Hirnschlag oder Schädelhirntrauma erblindete Menschen weiterhin sehen. Sie umgehen Hindernisse, erkennen Emotionen auf dem Gesicht des Gegenübers und können sagen, was auf Bildern dargestellt ist. Dies meldet das online Magazin "Sputnik".
Weiter heißt es hierzu auf deren deutschen Webseite: "Die Netzhaut nimmt das Licht war, das von der Quelle ausgeht. Diese Informationen gelangen in den Thalamus – einen Gehirnabschnitt, der für die Übermittlung von Sensoren- und Bewegungsinformationen der Sinnesorgane zuständig ist. Von dort aus werden sie in den primären visuellen Cortex, der statische und bewegliche Objekte sowie Gestalten unterscheidet, weitergeleitet.
Danach gehen die Informationen in den sekundären visuellen Cortex - und von dort aus in die assoziativen Gehirnabschnitte, wo die endgültige Erkennung der Gegenstände erfolgt und eine Reaktion darauf entsteht.
Wenn man aus dieser Kette den primären visuellen Cortex ausschließt – gerade er kann bei Hirnschlag oder Schädel-Hirntrauma beschädigt werden, wird der Mensch faktisch blind. Seine Augen sind zwar gesund und sehen weiter, doch das Gehirn reagiert nicht darauf. Allerdings gibt es Ausnahmen.
Niederländische und britische Wissenschaftler beschrieben zwei Fälle, als nach einem Kopftrauma blind gewordene Patienten menschliche Gefühle auf Bildern richtig erkannten. Sie hatten noch nicht geantwortet, ob der Mensch Angst oder Freude auf dem Foto zeigt, doch ihr Gehirn wusste bereits die richtige Antwort. An den Gesichtern von Freiwilligen wurden Elektroden angebracht, die Nervensignale fixierten, die an die Muskeln gesendet werden, die sich aktivieren, wenn der Mensch lächelt bzw. sich ärgert. Es stellte sich heraus, dass Patienten die Gesichtsausdrücke der Menschen auf den Bildern nachahmten, obwohl sie behaupteten, dass sie nichts sahen. Dabei zeigte der primäre visuelle Cortex keine Anzeichen einer Aktivität.
Ähnlich war es bei einem 50 Jahre alten Mann, der nach einem zweiten Hirnschlag sein Augenlicht verloren hatte. Während des Experiments – er sah sich ebenfalls Gesichter auf Fotos an – wurden seine Hirnaktivitäten im MRT-Scanner gemessen. Es stellte sich heraus, dass sich bei dem Patienten beim Betrachten der Bilder von Menschen, die ihn direkt ansahen, die Amygdala aktivierte – auch Mandelkern genannt, der für die Verarbeitung von Emotionen auf Gesichtern zuständig ist.
Allerdings antwortete der Teilnehmer des Experiments, als er rätselte, ob der Mensch auf dem Bild ihn ansieht oder nicht, nur auf die Hälfte der Fotos richtig. Doch ein anderer Patient mit beschädigtem primärem visuellem Cortex konnte die Gegenstände auf einem Bildschirm nahezu richtig benennen – mit einer Genauigkeit von 90 Prozent. Dabei behauptete er, dass er nichts sieht, und die richtigen Antworten nur ein Zufall waren.
Für eine Sensation sorgte ein Patient, der in der Wissenschaftsliteratur T.N. genannt wird. Er erblindete nach einem Hirnschlag und bewegte sich mithilfe eines Gehstocks. Forscher nahmen ihm den Stock weg und baten, durch einen Korridor mit willkürlich herumstehenden Kisten und Stühlen zu gehen. T.N. meisterte diese Aufgabe schon beim ersten Versuch und umging die Hindernisse völlig mühelos.
Laut den Verfassern der Studie begriff der Patient nicht einmal, dass er den Gegenständen aus dem Weg gegangen war. Er konnte seine Handlungen nicht erklären bzw. beschreiben. Zudem behauptete er, dass er einfach geradeaus durch den Korridor gegangen sei.
Niederländischen und schweizerischen Wissenschaftlern zufolge ist dies möglich, weil die Funktionen des nicht funktionierenden primären visuellen Cortex von den Höckern des Vierhügels des Mittelhirns übernommen werden – Strukturen, die ebenfalls auf Verarbeitung der visuellen Informationen spezialisiert sind.
Die unteren Höcker sind gewöhnlich für die Verarbeitung von Schallreizen zuständig, in den oberen Höckern endet ein Teil der Sehnerv-Fasern und dort erfolgt die schnelle Verarbeitung von Informationen, die von der Netzhaut erhalten werden. Dadurch kann man vor sich nähernden Gefahren fliehen (zum Beispiel vor Raubtieren), bevor der Körper versteht, was passiert. Aus den oberen Höckern des Vierhügels gelangen die Informationen in den Thalamus und danach in den sekundären visuellen Cortex. Offenbar bleibt dies bei Patienten mit einem verletzten sekundären visuellen Cortex aufrechterhalten. Deswegen können sie Gesichter erkennen, Hindernisse umgehen.
Zudem entstehen komplizierte visuell-akustische Assoziationen, wenn ein blinder Mensch den Schall mit der Größe des Gegenstandes in Verbindung setzt. Forscher baten einen Freiwilligen mit dem verletzten primären visuellen Cortex, einen Knopf zu drücken, wenn er den Eindruck hat, dass der Schall stärker wird. Auf dem Bildschirm vor dem Freiwilligen befand sich ein roter Kreis, der deutlich kleiner wurde, bevor die Lautstärke größer wurde. Der Blinde drückte immer wieder den Knopf, als der Kreis kleiner wurde. Das heißt, dass sein Gehirn Ursache und Wirkung zwischen der Lautstärke und der Größe des Gegenstandes verbinden konnte, obwohl er diesen Gegenstand nicht sah.
Laut den Autoren der Studie können wegen Trauma erblindete Menschen dank dieses Mechanismus einige Sehfähigkeiten wiederherstellen und etwas Neues erlernen."
Quelle: Sputnik (Deutschland)