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Starker Rückgang der Krankenhaus-Fallzahlen durch Coronavirus-Lockdown bei planbaren Eingriffen, aber auch bei Notfällen

Archivmeldung vom 29.06.2020

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 29.06.2020 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Bild: Michael Bührke / pixelio.de
Bild: Michael Bührke / pixelio.de

Das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) hat die Fallzahl-Rückgänge bei den Krankenhaus-Behandlungen aufgrund des Coronavirus-Lockdowns erstmals auf einer validen bundesweiten Datenbasis untersucht. Die Auswertung der Krankenhausfälle der 27 Millionen AOK-Versicherten zeigt, dass es während der Lockdown-Phase im März und April 2020 insgesamt deutliche Fallzahl-Rückgänge von 39 Prozent gegenüber dem Vorjahres-Zeitraum gab. Besonders hohe Rückgänge sind bei planbaren, nicht dringlichen Eingriffen wie Operationen zum Arthrose-bedingten Hüftersatz (minus 79 Prozent) zu verzeichnen. Allerdings zeigen sich auch starke Rückgänge bei der Behandlung von lebensbedrohlichen Notfällen wie Herzinfarkten (minus 31 Prozent) und Schlaganfällen (minus 18 Prozent). Der aktuelle WIdO-Report präzisiert erste interne Auswertungen aus dem April 2020, über die verschiedene Medien berichtet hatten.

Während der Lockdown-Phase vom 16. März bis zum 5. April 2020 wurden insgesamt rund 241.000 Fälle von AOK-Versicherten in deutschen Krankenhäusern behandelt. Das waren etwa 157.000 Fälle weniger als im entsprechenden Vorjahreszeitraum. Absolut gesehen gab es den größten Rückgang der Fallzahlen laut WIdO-Report bei Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems, die um 42 Prozent (minus 27.000 Fälle) zurückgingen. Der größte relative Fallzahl-Rückgang ist mit 65 Prozent bei den Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems zu verzeichnen (minus 22.000 Fälle). Das Ausmaß der Rückgänge ist regional unterschiedlich und reicht von 34 Prozent in Sachsen bis zu 43 Prozent in Rheinland-Pfalz.

In einer Detail-Analyse von insgesamt 21 Behandlungsanlässen zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen dringlichen, medizinisch notwendigen Behandlungen auf der einen und planbaren, weniger dringlichen Fällen auf der anderen Seite. So gab es beispielsweise bei den Blinddarm-Entfernungen ohne akute Entzündung einen Rückgang von 28 Prozent, während die Zahl Behandlungen von akuten Blinddarm-Entzündungen sogar leicht stieg (plus 8 Prozent). Ein ähnliches Muster zeigt sich bei Krebs-Behandlungen: Die Zahl der operativen Ersteingriffe zur Entfernung eines Tumors in der Brust stieg gegenüber dem Vorjahres-Zeitraum um 11 Prozent, während die nicht dringlichen Eingriffe zur Rekonstruktion der Brust um 76 Prozent zurückgingen. Die Gesamtzahl der vollständigen Gebärmutterentfernungen (Hysterektomien) hat sich nahezu halbiert (minus 48 Prozent), was ausschließlich auf Eingriffe bei gutartigen Veränderungen zurückzuführen war (minus 66 Prozent), während die Eingriffe bei Gebärmutterhalskrebs anstiegen (plus 23 Prozent). "Insgesamt zeigt sich in den Daten ein sehr rationales Vorgehen der behandelnden Ärzte in der Phase des Lockdowns: Nicht so dringliche Operationen, zum Beispiel zur Implantation von künstlichen Gelenken, wurden den Vorgaben der Politik entsprechend verschoben, um Kapazitäten für die Behandlung von Covid-19-Patienten freizuhalten. Zugleich wurden aber offensichtlich dringliche und medizinisch notwendige Operationen weiter durchgeführt", sagt WIdO-Geschäftsführer Jürgen Klauber. Den stärksten Rückgang hat es bei den besonders oft durchgeführten Operationen zum Einsetzen eines künstlichen Hüftgelenkes gegeben: Die Zahl der arthrosebedingten Hüftprothesen-Implantationen nahm um 79 Prozent ab. Die Zahl der Behandlungen von akuten Oberschenkelhalsbrüchen blieb dagegen ungefähr auf dem gleichen Niveau wie 2019.

Starker Rückgang bei Notfall-Behandlungen auch Anlass zur Sorge

Anlass zur Sorge geben aus Sicht der WIdO-Experten die hohen Fallzahl-Rückgänge bei der Behandlung von Herzinfarkten: Während im Vergleichszeitraum des Vorjahres insgesamt 4.628 Fälle von AOK-Versicherten behandelt wurden, waren es in der Lockdown-Phase nur 3.209 Herzinfarkte (minus 31 Prozent). Ein ähnliches Bild zeigt sich bei Schlaganfällen: Hier sank die Zahl der behandelten Fälle von 6.190 auf 5.046 (minus 18 Prozent). Bei der Behandlung der Vorstufe des Schlaganfalls, der transistorisch-ischämischen Attacke (TIA), zeigt sich in den Daten sogar ein Rückgang von 37 Prozent. "Diese starken Rückgänge in der Behandlung von echten Notfällen weisen darauf hin, dass betroffene Patientinnen und Patienten in der Phase des Lockdowns den Rettungsdienst seltener alarmiert haben", so Jürgen Klauber. Trotz akuten Behandlungsbedarfs und möglicher gravierender Folgen hätten die Betroffenen offenbar häufiger keine medizinische Hilfe in Anspruch genommen. "Über die Gründe für dieses Verhalten und das Ausmaß möglicher Folgeerkrankungen geben die Daten keinen Aufschluss", erklärt Klauber. Schon jetzt lasse sich aber schlussfolgern, dass die Aufklärung der Bevölkerung über das richtige Verhalten im Notfall verbessert werden sollte. Kampagnen wie "Zeit ist Muskel" oder "Time is brain" müssten mit Bezug zur Corona-Pandemie intensiviert werden. "Zu einem späteren Zeitpunkt sollten zudem die Sterblichkeitsraten und die Entwicklung von Folgeerkrankungen aufgrund nicht behandelter Notfälle analysiert werden", betont Klauber.

Komplexes Zusammenspiel von unterschiedlichen Ursachen für Fallzahl-Rückgänge

Aus Sicht der Experten lassen sich verschiedene Arten von Ursachen für die Fallzahl-Rückgänge unterscheiden. Erstens haben natürlich die regulatorischen Vorgaben der Politik wie die Verschiebung von planbaren und weniger dringlichen Behandlungen eine zentrale Rolle gespielt, erläutert WIdO-Geschäftsführer Jürgen Klauber. Zweitens können epidemiologische Ursachen Bedeutung haben: "So ist es beispielsweise möglich, dass es eine Reduktion der Herzinfarkt-Inzidenz infolge der Maßnahmen zu Eindämmung der Coronavirus-Pandemie gab. Denkbar ist beispielsweise ein Absinken des allgemeinen Stresslevels durch Homeoffice und Kurzarbeit oder die Reduzierung von Herzinfarkten durch extreme körperliche Belastung beim Sport", so Klauber. Drittens liegen mögliche Ursachen aber auch in individuellen Beweggründen wie der Furcht der Menschen vor einer Coronavirus-Infektion. Zudem sind auch ökonomische Anreize der 560-Euro-Tagespauschale für leer bleibende Krankenhausbetten nicht auszuschließen. "In ihrem Zusammenspiel können sich diese verschiedenen Einflussfaktoren gegenseitig noch verstärkt haben", so Klauber.

Trendumkehr seit April 2020: Fallzahlen steigen wieder

Seit der 15. Kalenderwoche (6. bis 10. April 2020), in der die Krankenhaus-Fallzahlen ihren Tiefpunkt erreichten, zeichnet sich eine Trendwende ab: Die Zahl der Behandlungsfälle steigt in den letzten Wochen langsam wieder an. "Offenbar werden die Empfehlungen des Bundesgesundheitsministeriums zur Rückkehr der Kliniken in einen neuen Alltag Schritt für Schritt umgesetzt. Ob und wann das Fallzahlenniveau vor der Coronavirus-Pandemie wieder erreicht wird, ist aber noch offen", betont WIdO-Geschäftsführer Jürgen Klauber.

Weitere Informationen und der WIdO-Report zum Download unter www.aok-bv.de und www.wido.de

Quelle: Wissenschaftliches Institut der AOK (ots)

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