Unterschätzt: Was uns schon der Schrei eines Säuglings über diverse Störungsbilder sagen kann
Archivmeldung vom 21.11.2019
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittImmer wieder geschieht es, dass Kinder offensichtlich viele Jahre ein Entwicklungsproblem mit sich herumtragen, dieses aber offenbar schwer zu fassen ist. Die Diagnose, dass das betroffene Kind an einer angeborenen genetischen Abweichung leidet, folgt dann eventuell erst im Schulalter. Dies kann zu Entwicklungsstörungen bei den Kindern führen. Dazu gehören Fehlbildungen der Artikulationsorgane, frühkindliche neurologische Störungen oder Hörstörungen. Ein sich gerade in der Entwicklung befindliches Analyseverfahren könnte den Leidensweg der Betroffenen und ihrer Angehörigen abkürzen: Die Analyse des Säuglingsschreis.
Ein Forschungsprojekt der Hochschule Fresenius zum Säuglingsschrei hat vielversprechende Ergebnisse erzielt, die künftig eine frühzeitige Feststellung solcher Störungen ermöglichen könnte. "Mithilfe eines speziellen technischen Verfahrens ist es uns erstmals gelungen, nicht nur gesunde von pathologischen Schreien zu unterscheiden, sondern letztere auch einem bestimmten Störungsbild zuzuordnen", sagt Prof. Dr. Tanja Fuhr, die gemeinsam mit Prof. Dr. Carla Wegener an dem Projekt geforscht hat. Beide sind an der Hochschule Fresenius in Idstein tätig. "Die Trefferquote lag dabei bei über 99 Prozent, ein wirklich herausragendes Ergebnis."
Gemeinsam mit Partnerinstitutionen haben die Forscherinnen 72 Säuglinge mit pathologischem Schreibild untersucht. Nach Aufnahme des Schreis geben im Rahmen des Analyseverfahrens bestimmte akustische Parameter Hinweise auf Störungen, die mittels Dataminingverfahren die entsprechende Klassifizierung vornehmen. Die Prozesse laufen weitgehend automatisiert ab. Dieses Verfahren wurde konkret mit Kindern, die ein zu weiches Knorpelgewebe am Kehlkopf, eine Hörstörung, eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte oder einen Sauerstoffmangel während des Geburtsvorgangs aufwiesen, erprobt.
Der Schrei ist Teil des Spracherwerbs und eines der neuromuskulär am höchsten auflösenden Systeme in den ersten Monaten im Säuglingsalter. Schon zu Beginn des Lebens wirken hier viele Muskeln und Hirnnerven in einer Art Symbiose der Verarbeitung zusammen. Kaum ein anderes System im Körper ist zu diesem Zeitpunkt schon so weit entwickelt wie die Stimmgebung - und kaum ein anderes deshalb so gut für die Erkennung bestimmter Phänomene geeignet.
"Der nächste Schritt wäre nun die Validierung unserer Ergebnisse, um daraus eine Allgemeingültigkeit abzuleiten. Dies könnte als Grundlage für Diagnoseverfahren dienen, damit wir sie flächendeckend etwa in Kliniken und Kinderarztpraxen einsetzen können", so Fuhr. Der technische Aufwand wäre extrem gering: Schon ein Smartphone mit einer entsprechenden App würde ausreichen.
Diese Validierung ist allerdings die große Herausforderung: "Wir bräuchten eine große Probandenzahl pro Störungsbild", berichtet Prof. Dr. Carla Wegener. "Und es handelt sich zum einen um seltene Störungen, zum anderen haben Eltern bei deren Auftreten erst einmal andere Sorgen. An dieser Stelle müssen wir viel Aufklärungsarbeit leisten, denn unsere Untersuchungen sind harmlos. Wir erzeugen ja keinen Schrei, sondern nehmen diesen nur auf. Die Risiko-Nutzen-Analyse gibt also eigentlich eine klare Antwort."
Das menschliche Ohr ist dem technischen Verfahren übrigens klar unterlegen, auch das haben die Wissenschaftlerinnen herausgefunden: Ganz unterschiedliche Personengruppen durchliefen ein Hörtraining, darunter Eltern, Erwachsene ohne Kinder sowie Hebammen mit teilweise langer Berufserfahrung. Zwar kommen alle Gruppen relativ schnell auf den gleichen Hörlevel und in 89 Prozent der Fälle konnten sie in dem Versuch auch gesunde von pathologischen Schreien unterscheiden. Bei der Zuordnung zum richtigen Störungsbild blieb der Erfolg gegenüber dem technischen Verfahren jedoch deutlich zurück: Hier lag die Quote nur noch bei 64 Prozent.
Quelle: Hochschule Fresenius (ots)