Risikostrukturausgleich: Deutsche Übergründlichkeit führt in die falsche Richtung
Archivmeldung vom 26.10.2006
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittBei der geplanten Erweiterung des Finanzausgleichs der Krankenkassen werden in deutscher Übergründlichkeit die Weichen in die falsche Richtung gestellt. Das ist das Ergebnis eines internationalen Projektes, das im Auftrag der Techniker Krankenkasse (TK) Erfahrungen aus der Schweiz, den Niederlanden und den USA unter die Lupe genommen hat.
Alle drei haben Erfahrungen bei der
Berücksichtigung von Risikoaspekten in der Gesundheitsversorgung. Das
Resümee von Professor Dr. Eberhard Wille (Universität Mannheim) und
Professor Dr. Volker Ulrich (Universität Bayreuth), die das Projekt
koordiniert haben: "Der für Deutschland geplante
morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich ist für die
Etablierung eines echten Wettbewerbs in der gesetzlichen
Krankenversicherung nicht nur überflüssig, sondern auch
kontraproduktiv. Die internationalen Erfahrungen zeigen unisono, dass
wettbewerbliche Alternativen zu dem ins Auge gefassten
Finanzausgleich bestehen, die transparenter sind, weniger
bürokratischen Aufwand bedeuten und sich in eine wettbewerbliche
Ausrichtung des Systems einbetten lassen."
Die Motive der TK erläuterte Professor Dr. Norbert Klusen,
Vorsitzender des Vorstandes: "Bevor man Systeme fundamental ändert,
sollte man einen Blick über den Tellerrand wagen. Das tun
Gesundheitspolitiker ja durchaus auch bei anderen Themen. Warum
sollte Deutschland also nicht auch bei der Berücksichtigung von
Risikoaspekten von anderen Staaten lernen?"
USA (Prof. Dr. Thomas McGuire, Harvard Medical School, Boston)
In den USA gibt es einen formalen Risikostrukturausgleich (RSA)
nur im öffentlichen Medicare-System. Der private
Krankenversicherungsmarkt setzt stärker auf Wettbewerbselemente
(Vertragswettbewerb über Preise, Mengen und Qualitäten). Strebt die
Politik eine Angleichung der Beitragssätze der Krankenkassen als
politisches Ziel an, gibt es nach amerikanischen Erfahrungen eine
Reihe einfacherer Möglichkeiten als einen technisch komplizierten
morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich.
Effizienzprobleme aufgrund von Risikoselektion durch die
Krankenkassen sind in Deutschland verglichen mit den USA klein. Die
unterschiedlichen Beitragssätze sind im deutschen System aufgrund der
Wahlfreiheit der Versicherten zudem kein Effizienzproblem.
Niederlande (Dr. Rudy Douven, Central Planbureau, Den Haag)
In den Niederlanden kennt man einen an Krankheitskriterien
orientierten Risikostrukturausgleich. Er ist jedoch transparenter und
praxisorientierter als in Deutschland vorgesehen (wenige Diagnosen,
Klinikaufenthalte erst ab drei Tagen, im Zeitablauf wechselnde
Ausgleichskriterien). Die niederländischen Erfahrungen zeigen, dass
es entgegen der in Deutschland verbreiteten Annahme kein
morbiditätsorientiertes RSA-System gibt, das per se überlegen ist.
Zudem bedarf das aufwändige Ausgleichssystem ständiger technischer
Anpassungen und entwickelt sich zu einem Spezialistensystem mit der
Folge, dass politische Entscheidungsträger sich von einigen wenigen
Fachexperten abhängig machen.
Schweiz (Prof. Dr. Robert Leu, Universität Bern)
In der Schweiz ist Risikoselektion ein weitaus größeres Problem
als in Deutschland, da die Schweizer Kassen Konglomerate bilden
dürfen und private Zusatzversicherungen direkt vertreiben. So
erhalten sie Informationen über den Gesundheitszustand der
Versicherten und bieten unter einem Markennamen den
Versicherungsschutz zu unterschiedlichen Preisen an: Gute Risiken
werden in preisgünstige und schlechte Risiken in teure
Tochtergesellschaften gesteuert. Aus diesen Gründen ist vorgesehen,
den bestehenden Risikoausgleich um die Kosten der Klinikaufenthalte
des Vorjahres zu ergänzen.
In Deutschland hingegen sind die Möglichkeiten der Krankenkassen
zur Risikoselektion klein. Einen technisch komplizierten
morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich braucht es daher
nicht.
Deutschland (Prof. Dr. Eberhard Wille, Universität Mannheim;
Prof. Dr. Volker Ulrich, Dr. Udo Schneider, Universität Bayreuth)
Jedes der bekannten morbiditätsbasierten
Risikostrukturausgleichs-Modelle berücksichtigt kurative
Behandlungsdaten und verringert damit die Anreize der Krankenkassen,
die Prävention zu fördern und in die Vermeidung von Krankheiten zu
investieren.
Der in Deutschland praktizierte RSA ist bereits
morbiditätsorientiert. Er hat zu einer erheblichen Reduktion der
Beitragssatzspannen geführt und ermöglicht Effizienzanstrengungen der
Kassen, da er an wenigen Ausgleichsmerkmalen ausgerichtet ist.
Unter Wettbewerbsaspekten stellt die Erweiterung des RSA den
falschen Weg dar. Solange den Kassen keine weiteren
Wettbewerbsparameter an die Hand gegeben werden, können sie sich
keine Wettbewerbsvorteile in Form von Kosteneinsparungen und
Qualitätsverbesserungen erarbeiten. Da trotz aller Anstrengungen zur
Schaffung schlanker Organisationsstrukturen der finanzielle Spielraum
für Effizienzverbesserungen gering bleibt, dominiert das Streben nach
einer Erhöhung der empfangenen bzw. einer Senkung der geleisteten
RSA-Zahlungen (so genannte Rent-Seeking-Effekte).
Zentrale Elemente eines echten Wettbewerbs zwischen den Krankenkassen könnten folgende Parameter umfassen: mehr Handlungsmöglichkeiten für die Kassen auf der Beschaffungs- und der Nachfrageseite (mehr Vertragswettbewerb, Sicherstellungsauftrag, Qualität der Leistungserbringung, Ausdifferenzierung des Leistungskatalogs etc.); Beschränkung des RSA auf zentrale, vergleichsweise einfach zu erfassende morbiditätsorientierte Merkmale; Kombination des RSA mit einem Rückversicherungsmodell.
Quelle: Pressemitteilung Techniker Krankenkasse