Handbewegung trotz Lähmung
Archivmeldung vom 28.03.2012
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittGelähmte, die wieder greifen können, und Menschen, die alleine mit ihren Gedanken Texte verfassen und E-Mails verschicken können: Damit so etwas klappt, sind Gehirn-Computer-Schnittstellen vonnöten. Mit aktuellen Fortschritten dieser Technik hat sich ein dreitägiger Workshop an der Uni Würzburg beschäftigt. Die Alltagstauglichkeit stand dabei im Mittelpunkt.
Tilo Werner war ein sportlicher Mann. Er war Fallschirmspringer und Motorradfahrer, und nie ist ihm dabei etwas Ernsthaftes passiert. Doch ein Badeunfall vor rund zweieinhalb Jahren setzte diesem Leben ein Ende. Seitdem ist er vom vierten Halswirbel an querschnittsgelähmt, sitzt im Rollstuhl und ist auf ständige Betreuung angewiesen. Allein seine linke Schulter vermag er noch ein wenig zu heben und zu senken.
Dass er zu mehr in der Lage ist, das hat Tilo Werner jetzt einer breiten Öffentlichkeit bewiesen: Auf einem wissenschaftlichen Workshop hat er gezeigt, wie moderne Technik es möglich macht, dass auch Gelähmte wieder greifen und ihren Arm bewegen können. Organisiert hat den Workshop die Psychologie-Professorin der Universität Würzburg, Andrea Kübler, gemeinsam mit ihrem Team.
Handbewegung trotz Lähmung
Einen Stift rechts von einem niedrigen Tisch hochheben und auf einem höheren Tisch links daneben wieder ablegen: So lautete der Auftrag an Tilo Werner. Oder, konkret gesagt: Der Gelähmte musste seine rechte Hand an der richtigen Position schließen, musste den Ellbogen beugen, zur Seite bewegen, wieder strecken und anschließend die Hand öffnen.
Damit das trotz Lähmung funktioniert, ist einiges an Technik nötig: Elektroden auf Werners Arm geben den entsprechenden Muskeln den Befehl, sich zu verkürzen und somit entweder die Hand zu schließen oder den Arm zu beugen. Steuern kann Werner dies mit Hilfe seiner linken Schulter, die er noch selbstständig bewegen kann. Eine dort platzierte Elektrode funktioniert im Prinzip wie ein Joystick: Hebt Werner die Schulter, kontrahieren die Muskeln, senkt er sie, entspannen sie sich.
Umschalten mit Gedankenkraft
Das Umschalten von der Hand zum Arm und zurück steuert Tilo Werner mit der Kraft seiner Gedanken: „Wenn ich will, dass ich meine Hand bewege, muss ich mich gedanklich auf die eine Bewegung in der Hand konzentrieren. Um den Arm zu bewegen, muss ich mir eine Bewegung in den Fußzehen vorstellen“, erklärt der 41-Jährige. Eine mit Elektroden versehene Kappe auf seinem Kopf erfasst dabei die Gehirnströme und leitet sie an einen Computer weiter, der anhand charakteristischer Muster erkennt, welches Körperteil Werner bewegen will. Gehirn-Computer-Schnittstelle oder Brain-Computer-Interface heißt diese Technik im Fachjargon.
Wie Gehirn-Computer-Schnittstellen funktionieren und welche Anwendungsgebiete denkbar sind: Damit haben sich die Teilnehmer eines Workshops in Würzburg beschäftigt, der im Rahmen des europaweiten Forschungsprojekts TOBI (Tools for Brain Computer Interaction) stattfand. Leiterin des Würzburger Teilprojekts ist Andrea Kübler, Professorin am Institut für Psychologie der Universität Würzburg.
Ziel des Projekts ist es, Gehirn-Computer-Schnittstellen so anwenderfreundlich zu gestalten, dass sie Menschen beispielsweise nach einem Schlaganfall oder mit einer schweren Lähmung dabei behilflich sind, ihren Alltag zu bewältigen. Die Europäische Union fördert das Projekt mit insgesamt zwölf Millionen Euro. Neben dem Team von Andrea Kübler sind Einrichtungen aus Italien, der Schweiz, Großbritannien und Österreich beteiligt.
Langer Weg vom Labor in den Alltag
Menschen, die mit der Hilfe von Gehirn-Computer-Schnittstellen in der Lage sind, gelähmte Körperteile zu bewegen; die am Rechner Texte verfassen und E-Mails verschicken oder Bilder malen: Im Rahmen des Workshops gab es viele solcher Beispiele zu bewundern. Trotzdem warnt Andrea Kübler vor überzogenen Erwartungen: „Wir wollen keine unrealistischen Hoffnungen wecken. Innerhalb der nächsten zwei Jahre wird es definitiv auf dem Markt keine Technik zu kaufen geben, die bei den Betroffenen zuhause zum Einsatz kommen kann“, sagt sie. Allerdings arbeiten die Wissenschaftler in TOBI daran.
Ein ganz praktisches Problem ist derzeit beispielsweise die Kappe, die zum Ablesen der Gehirnströme aufgesetzt werden muss. Dass man mit ihr nicht sonderlich gut aussieht, ließe sich vermutlich noch verschmerzen. Unangenehm wird sie für ihren Träger jedoch durch die Tatsache, dass viel Gel auf der Kopfhaut benötigt wird, damit die empfindlichen Elektroden tatsächlich die richtigen Ströme messen. Deshalb ist im Prinzip nach jedem Tragen eine gründliche Haarwäsche nötig.
„Wir glauben allerdings, dass wir in absehbarer Zeit eine Alternative zu dieser unangenehmen Prozedur entwickeln können“, sagt Kübler. Was den Wissenschaftlern vorschwebt, ist eine Art Helm, der sich einfach auf- und absetzen lässt und der im Idealfall auch noch „richtig cool“ aussieht.
Intensives Training ist nötig
Mehrere hundert Trainingseinheiten hat Tilo Werner nach Angaben von Dr. Rüdiger Rupp, Ingenieur an der orthopädischen Uniklinik Heidelberg und Leiter der Forschungsgruppe „Neuroorthopädie“ des dortigen Querschnittzentrums, inzwischen absolviert. An eine Bewegung in der Hand oder im Fuß denken – das klingt eigentlich nicht kompliziert. Tatsächlich ist es aber nicht ohne: „Man darf nicht zu viel denken, sonst schaltet der Computer zu früh um“, sagt Tilo Werner.
Drei Mal pro Woche trainiert Werner zurzeit mit der Gehirn-Computer-Schnittstelle und anderer Technik. „Nicht viel, wenn man bedenkt, dass die Muskulatur in der übrigen Zeit überhaupt nicht gefordert wird und deshalb immer mehr verkümmert“, sagt Rüdiger Rupp. Und doch äußerst anstrengend für den Betroffenen. Er müsse jedenfalls hinterher immer erst eine Runde schlafen, berichtet Tilo Werner. Auf welches Ziel er hintrainiert? Er wäre froh, wenn er alleine und ohne menschliche Hilfe Gummibärchen essen, einen Kaffee trinken oder seine Zähne putzen könnte, sagt er. Bis es soweit ist, müssen er und die Wissenschaftler allerdings noch Einiges an Arbeit erledigen.
Quelle: Julius-Maximilians-Universität Würzburg (idw)