Studie: Ärzte verordnen leichtfertig Antibiotika
Archivmeldung vom 05.08.2016
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Freigeschaltet durch André OttÄrzte in Deutschland verordnen Antibiotika in 95 Prozent der Fälle, ohne vorab ihre Wirksamkeit zu klären. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Erhebung der Betriebskrankenkassen Nordwest und Mitte unter rund sieben Millionen Versicherten in 13 Bundesländern, die den Zeitungen der Funke-Mediengruppe vorliegt.
Es werde "falsch verordnet - so falsch, dass die Gesundheit von Patienten gefährdet wird", sagte Dirk Janssen, stellvertretender Vorstandschef der BKK Nordwest, den Funke-Zeitungen. Für die Studie haben die beiden größten deutschen BKK-Landesverbände ihre Abrechnungsdaten analysiert: Geprüft wurden sechs Quartale, von Anfang 2014 bis Mitte 2015.
In diesen eineinhalb Jahren bekamen 1,7 Millionen Patienten, rund ein Viertel aller BKK-Versicherten, Antibiotika verschrieben - im Westen Deutschlands doppelt so häufig wie im Osten. Die BKK-Untersuchung zeigt: Nur bei 3,6 Prozent der Patienten mit Infektionen wurde vorher sichergestellt, dass ihnen das verordnete Antibiotikum auch nützt. Dabei ist dieser Nachweis leicht und verlässlich zu erbringen. Anhand eines Abstrichs beim Patienten - ein sogenanntes Antibiogramm - steht binnen 48 Stunden fest, welches Antibiotikum die Infektion ausschalten kann.
Umgekehrt zeigt der Test auch, welche Mittel der Arzt sich, dem Patienten und dem Gesundheitssystem ersparen kann, weil die Keime dagegen bereits unempfindlich sind - resistent. Das Verfahren kostet 5,40 Euro. "Nur das Antibiogramm bringt eine zuverlässige Aussage über Wirksamkeit oder Unwirksamkeit eines Antibiotikums", sagte Klaus-Dieter Zastrow, Chefarzt am Institut für Hygiene und Umweltmedizin der Vivantes Kliniken in Berlin, den Funke-Zeitungen. Jede unwirksame Antibiotikagabe "vermehrt multiresistente Erreger, verschlimmert die Infektion und gefährdet letztlich das Leben des Patienten", kritisierte Zastrow.
Die BKK-Zahlen zeigen: In deutschen Praxen ist das Antibiogramm ein seltenes Hilfsmittel. Die größte Wertschätzung genießt es noch in der Urologie: Bei rund 207.000 Infektionen veranlassten Urologen in annähernd jedem vierten Fall den Test. Anders die Internisten: Auf fast 119.000 Infektionsfälle kamen dort nur 30 Antibiogramme.
Noch seltener setzen Allgemeinmediziner auf das Verfahren. Unter mehr als 350.000 Infektionsfällen, die beim Hausarzt mit Antibiotika behandelt wurden, fanden die BKK-Prüfer ganze 15 Fälle, die durch ein Antibiogramm abgesichert waren. Nach Angaben von Gerd Glaeske, Professor für Arzneimittelversorgungsforschung im Zentrum für Sozialpolitik (ZeS) der Universität Bremen, bekommen Kinder am häufigsten Antibiotika verschrieben, weit mehr als Erwachsene.
"Auf den ersten Blick hat das mit der Infektanfälligkeit von Kindern zu tun. Wenn man genauer hinschaut, zeigt sich, dass nur selten bakterielle Infektionen im Spiel sind. Nur gegen solche Infekte helfen allerdings Antibiotika", erläuterte Glaeske. Viele Ärzte würden offen einräumen, dass es bei den Verschreibungen nicht um Therapie gehe, sondern um eine "Beruhigung der Eltern".
Dies geschehe "nach dem Motto: Das wird schon nicht falsch sein, solche Mittel zu geben." In der Folge würden viel zu viele Antibiotika bei minderen Anlässen verordnet. "Es ist eine Therapie mit der Schrotflinte, breit gestreut statt zielgenau", sagte Glaeske.
Quelle: dts Nachrichtenagentur