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Chip ermöglicht Blinden Seheindrücke

Archivmeldung vom 15.03.2007

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 15.03.2007 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Subretinales Chip-Implantat Bildquelle: Retina Implant GmbH
Subretinales Chip-Implantat Bildquelle: Retina Implant GmbH

Erste Ergebnisse der Pilotstudie zur Untersuchung der Wirksamkeit und Verträglichkeit eines subretinalen Chip-Implantates bei blinden Patienten.

Bei dem neu entwickelten Netzhaut-Chip übernehmen winzige lichtempfindliche Photodioden die Aufgaben abgestorbener Sehzellen (Zapfen und Stäbchen), indem sie Licht in elektronische Signale umwandeln und diese auf die Nervenzellen der Netzhaut lenken. Entwickelt wurde der elektronische Chip vom Medizintechnik Unternehmen Retina Implant GmbH aus Reutlingen.
Die Implantation unter die Netzhaut des Auges sowie die Funktionstests wurden an der Universitäts-Augenklinik Tübingen durchgeführt.

Die Forschungen zu unter die Netzhaut eingesetzten Implantaten werden seit 1995 in Deutschland von einem großen Forschungsverbund durchgeführt, an dem Augenärzte aus Tübingen und Regensburg sowie Biologen, Physiker und Ingenieure aus Tübingen, Reutlingen und Stuttgart beteiligt sind. Das Projekt wird von Prof. Eberhart Zrenner, Ärztlicher Direktor am Forschungsinstitut für Augenheilkunde in Tübingen, wissenschaftlich geleitet und wurde seither vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF, Förderkennzeichen: 01 KP 0401) unterstützt.

Die im Forschungsstadium befindliche Behandlungsmethode ist für Blinde geeignet, deren Sehnerven und die dazugehörigen Hirnregionen noch intakt sind, wie es z.B. bei der erblichen Netzhauterkrankung Retinitis Pigmentosa der Fall ist.
Bei an Retinitis Pigmentosa erkrankten Patienten kommt die Erblindung schleichend: Zunächst kaum bemerkt, sterben die Sehzellen (Zapfen und Stäbchen), die in der Netzhaut des Auges Licht in elektrische Impulse umwandeln allmählich ab. Das Gesichtsfeld engt sich zunehmend ein und viele Betroffene verlieren langsam ihr Augenlicht. Rund elf Prozent aller Blinden sind von dieser Erkrankung betroffen, eine Behandlung ist bislang nicht möglich.

Der eingesetzte Netzhaut-Chip übernimmt die Funktion der abgestorbenen Sehzellen. Anschließend leistet die Netzhaut die für die Bilderkennung wichtige Übersetzungsarbeit. Die elektrischen Impulse werden über die Sehnervenfasern an die Sehrinde des Gehirns weitergeleitet und ermöglichen dort die Seh-Wahrnehmung.

Die Forscherteams waren bei der Entwicklung der Chips vor vielfältige Fragen gestellt, die in den letzten Jahren erfolgreich gelöst wurden, u.a. ob sich ein Fremdkörper dauerhaft unter die Netzhaut in die Nähe der Stelle des schärfsten Sehens platzieren lässt, wie haltbar die Chip-Materialien in den Augenflüssigkeiten sind oder inwieweit die Signalstärke aus den winzigen Photodioden ausreicht, um die Nachrichtenkette ins Gehirn anzustoßen. Erforscht werden mussten auch die Schwellen für die elektrische Reizung von Sehnervenzellen.

Ziel des Projekts ist es, durch das Einsetzen des Implantates ein gewisses Sehvermögen wiederherzustellen, das im praktischen Leben nutzbar ist und zumindest eine Orientierung, z.B. die Lokalisation von Gegenständen, erlaubt. In zahlreichen Versuchen (tw. im Tiermodell) wurden vorab Schwellen für die elektrische Reizung von Sehnerven und die Grenzwerte für einen sicheren Einsatz bestimmt. Die Pilotstudie sollte die Sicherheit und Verträglichkeit sowie die Funktionsergebnisse im Rahmen einer auf vier Wochen begrenzten Implantation prüfen. Sie diente dem Erkenntnisgewinn bezüglich einer Vielzahl von technischen und medizinischen Daten, die für die weitere Optimierung des Netzhautchips unerlässlich sind.

Studien-Ergebnisse

Sieben Patienten wurden erfolgreich und mit gutem Heilungsverlauf operiert. Alle Patienten haben das von Privatdozent Dr. Sachs oder von Prof. Bartz-Schmidt operativ unter die Netzhaut eingebrachte Implantat gut vertragen. Es gab keine Netzhautablösungen, Entzündungen, Abstoßungsreaktionen, schweren Blutungen oder ähnliches. Auch das von Dr. Dorothea Besch und Dr. Florian Gekeler verlegte Energie-Zuführungskabel unter der Gesichts- und Kopfhaut machte keinerlei Probleme. Netzhautschwellungen konnten gut behandelt werden; kleine Blutungen wurden rasch resorbiert. Das neuartige, durch die Aderhaut des Auges hindurch ausgeführte Operationsverfahren kann als sicher gelten.
Die elektrische Stimulation erbrachte eine Fülle wichtiger und wertvoller Erkenntnisse über das Antwortverhalten der Netzhaut und damit für die günstigste elektronische Einstellung des Chips. Bereits während der Studie konnten einige technische Verbesserungsschritte vorgenommen werden. Durch die elektrischen Reize konnten Patienten Licht in bestimmten Formen und Mustern wahrnehmen. Sehwahrnehmungen über den Chip selbst machten das Erkennen und Lokalisieren von Lichtquellen (Fenster, Lampe) möglich, was für die selbstständige Orientierung von großer Bedeutung ist. Teilweise bemerkten und orteten die Patienten helle Gegenstände (z.B. Geschirr) auf dunklem Hintergrund.
Die Pilotstudie (Leiter: Prof. Dr. Zrenner, Koordination: PD Dr. Barbara Wilhelm) erbrachte äußerst wertvolle Daten zur Stärke der Reizströme, ihrer optimalen Dauer und Polarität, zur zeitlichen Folge von Lichtreizen, zur räumlichen Auflösung, zur Homogenität und Stabilität der Wahrnehmungen sowie zur Verträglichkeit und Reaktivität der Netzhaut.
Alle Patienten erlebten die Studienteilnahme, trotz der Belastungen durch die Operation und der oft langwierigen Testverläufe, als rundum positives, spannendes Erlebnis. Am Ende der Studie erklärten sie, dass sie ihre Entscheidung zur Teilnahme wieder so treffen würden.

Das Implantat

Bei dem verwendeten Implantat handelt es sich um ein bisher nach dem Medizinproduktegesetz noch nicht zugelassenes und nur für Forschungszwecke hergestelltes Muster. Die prinzipielle Machbarkeit der Implantation und die Verträglichkeit des Implantats wurden zuvor im Tierversuch ausführlich geprüft.

Aufbau
Das Netzhautimplantat besteht aus vielen kleinen Photozellen. Eine Photozelle wandelt Licht in Strom um, ähnlich wie eine Solarzelle. Im Auge sind die einzelnen Photozellen sehr viel kleiner - das ganze Implantat misst etwa drei mal drei Millimeter;es ist mit 70 µm etwa so dick wie ein menschliches Haar. Darauf sind 1.500 Photozellen samt Schaltkreisen für Verstärkung, Helligkeitsanpassung und Sicherheitsschaltung untergebracht. Jede einzelne Photozelle reagiert auf Licht und schaltet helligkeitsdosiert über winzig kleine Elektroden externen Strom auf die darüber liegenden Nervenzellen: Im Prinzip funktioniert sie also wie ein Lichtempfänger in der Netzhaut.
An der Spitze des Implantats befindet sich eine Art Zunge, auf der weitere 16 kleine Elektroden angebracht sind; diese werden bei der elektrischen Direktstimulation zur Prüfung der Reaktionsweise der Nervenzellen einzeln oder in Gruppen aktiviert. Die Prüfung dient dazu, gezielt Lichtwahrnehmungen auszulösen und die günstigste elektronische Einstellung für die Wahrnehmungsvermittlung herauszufinden. Durch die Direktstimulation werden - unabhängig von der Chip-Funktion - weitere wichtige Informationen gewonnen.

Materialien

Das Implantat besteht zum größten Teil aus Silizium. Alle Materialien haben sich in zahlreichen Tierversuchen über längere Zeiträume hinweg als bioverträglich erwiesen.

Energieversorgung des Netzhautimplantats

Zunächst steht für die Verweildauer in der Studie eine externe Energieversorgung zur Verfügung, um jeweils die optimale Einstellung für den Chip zu finden. Dies geschieht über ein kleines Netzteil (etwa in der Größe eines Walkmans), welches an einem Band um den Hals getragen werden kann. Für ein vermarktungsfähiges Produkt ist eine drahtlose Energieversorgung über eine Spule unter der Haut vorgesehen.

Studienteilnehmer

An der Studie teilnehmen können Patienten, die zumindest auf einem Auge erblindet sind bzw. die Licht nur so unsicher lokalisieren können, dass es für ihre Orientierung unwesentlich ist. Die Teilnehmer müssen mindestens 18 Jahre und höchstens 75 Jahre alt sein und an Retinitis Pigmentosa, Chorioideremie oder ausgedehnter Zapfen-Stäbchen-Dystrophie leiden. Sie sollten mindestens zwölf Jahre Seherfahrung im Leben gehabt und dabei über mindestens fünf Prozent Sehschärfe verfügt haben.
Für eine ganze Reihe von Erblindungsursachen kommt ein Netzhautimplantat als potenzielles Sehimplantat nicht in Frage, z.B. bei Glaukom ("grüner Star"), Erkrankungen des Sehnervs, Durchblutungsstörungen der Netzhaut, Netzhautablösungen oder Blindheit durch Unfallverletzungen. Auch Patienten mit altersbedingter Makuladegeneration können derzeit noch nicht an der Studie teilnehmen.

Operation und Klinikaufenthalt

Nach den Voruntersuchungen im Department für Augenheilkunde Tübingen (Ärztliche Direktoren: Prof. Dr. med. Eberhart Zrenner und Prof. Dr. Karl-Ulrich Bartz-Schmidt) wurden die Patienten entweder von PD Dr. med. Helmut Sachs (Leitender Oberarzt der Universitäts-Augenklinik Regensburg) oder Prof. Bartz-Schmidt operiert. Sie blieben zunächst eine Woche stationär in der Tübinger Augenklinik zu augenärztlichen Untersuchungen und täglichen Nachkontrollen. In den darauf folgenden drei Wochen wurde in speziellen, ambulanten Untersuchungen die Funktionsfähigkeit und die Verträglichkeit des Chips geprüft. Die Patienten konnten in dieser Zeit in Tübingen im Hotel wohnen und wurden durch Ärzte des Universitätsklinikums auch psychologisch betreut.

Nach Abschluss der Untersuchungen wurde der Chip wieder entfernt. Ein Patient behielt auf eigene Verantwortung das Implantat länger und trägt es seit 16 Monaten beschwerdefrei.
Der derzeitige Stand der Forschung und der postoperative Verlauf nach Explantation lassen annehmen, dass eine zweite Implantation am selben Auge möglich ist. Ein Implantat einer späteren Generation könnte auf jeden Fall ohne Bedenken in das nicht-operierte Partnerauge implantiert werden.

Ethische Aspekte der klinischen Pilot Studie
Die Pilot-Studie wurde am 14.9.2005 von der Ethik-Kommission der Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen medizinisch und ethisch geprüft und als Forschungsprojekt positiv bewertet.

Besonderer Dank gilt den Patientinnen und Patienten, die sich für diese Studie zur Verfügung gestellt haben. Sie sind Pioniere und nahmen nicht zum persönlichen Vorteil teil, da bei einer zeitlich begrenzten Implantation noch kein anhaltender Nutzen für Patienten vorhanden ist. Vielmehr bestand ihre Motivation darin, die Forschung voranbringen zu helfen. Sehr erfreulich war auch die Aussage aller sieben Patienten, dass keiner von ihnen die positiven Erlebnisse bei der Pilotstudie missen möchte.

Quelle: Pressemitteilung Informationsdienst Wissenschaft e.V.

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