Virtuelle Realität hilft bei Schleudertrauma
Archivmeldung vom 12.05.2007
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittStatistisch gesehen passieren Tag für Tag mehr als 1.200 Unfälle, bei denen Menschen verletzt werden. Eine häufige Verletzung ist das Schleudertrauma der Halswirbelsäule, das typischerweise nach Auffahrunfällen auftritt. Eine objektive Diagnose zu stellen, ist schwierig, denn bislang können nur Schädigungen der Halswirbel bildhaft dargestellt werden.
Doch das könnte sich nun ändern, denn Darmstädter Forscher haben ein System
entwickelt, mit dem sich darüber hinaus Schäden an der Halsmuskulatur
verlässlich messen lassen. "Auf dieses System aufbauend haben wir einen
Prototypen entwickelt, der auch die Therapie wesentlich effizienter macht",
ergänzt Alexander Rettig, technischer Leiter des durch das Programm Exist Seed
geförderten Projektes. Beteiligt sind das Uniklinikum Ulm, die TU Darmstadt, das
Fraunhofer Institut für Graphische Datenverarbeitung (IGD) und PolyDimensions
GmbH im hessischen Bickenbach.
Patienten werden in virtuelle Welt
versetzt
Die Diagnose Schleudertrauma kann der Arzt bislang nur aufgrund
der Schilderung des Unfallhergangs und der Beschwerden des Patienten stellen.
Weiteres Kriterium ist eine eingeschränkte Beweglichkeit des Kopfes und
Kraftlosigkeit in Armen und Händen. Als weltweit erste Forschergruppe haben die
Deutschen mit Hilfe einer so genannten Datenbrille eine Möglichkeit gefunden,
die Diagnose zu objektivieren. Dazu wird der Patient über die "Brille" in eine
virtuelle Realität (VR) versetzt, in der sich ein Objekt, beispielsweise die
Erde im Weltall, bewegt. Der Brillenträger hat die Aufgabe, den Kopf so zu
bewegen, dass das Fadenkreuz vor seinen Augen auf dem Zielobjekt bleibt. Der
Patient wird also durch die Bewegung geführt, wobei gleichzeitig die
Muskelspannung gemessen wird. Im Falle eines Schleudertraumas verkrampfen die
Muskeln in einer Art Schutzmechanismus, der die Beweglichkeit der
Halswirbelsäule einschränkt. Um die Muskelfunktion messen zu können, werden zwei
dünne Drähte in einer Hohlnadel links und rechts von der Halswirbelsäule
eingeführt. "Die Schmerzen entsprechen in etwa dem Einstechen von
Akupunktur-Nadeln", versichert Rettig, "sie sind also durchaus zu ertragen."
Über die Spannungsmessung erkennt der Arzt, wann genau sich ein Muskel
verkrampft und kann sehr genau bestimmen, wie weit die Beweglichkeit
eingeschränkt ist.
Ein weiterer Vorteil der Datenbrille: Die Patienten
verlieren für den Zeitraum der Untersuchung den Bezug zur realen Welt. Sie
können nicht mehr einschätzen, wie weit sie ihren Kopf drehen, weil sie keine
realen Bezugssysteme mehr haben. Das wiederum führt dazu, dass sie nicht bewusst
entscheiden können, wie weit sie den Kopf drehen. An Frühverrentung
Interessierte haben also keine Möglichkeit mehr, das Ergebnis der Untersuchung
in ihrem Sinne zu beeinflussen, indem sie eine eingeschränkte Bewegungsfähigkeit
vortäuschen.
Mit VR steigen die Therapieerfolge deutlich
Doch das
System kann noch mehr. Das Team aus Medizinern und Entwicklern hat einen
Prototypen geschaffen, der auch in der Therapie eingesetzt werden kann. Hierfür
müssen den Betroffenen keine Drähte gesetzt werden. Sie müssen lediglich die
Brille aufsetzen und einen Helm. An dem Helm befinden sich Motoren, die Druck
auf den Kopf ausüben, gegen den der Patient angehen muss. Indem er die durch die
Brille vorgegebenen Kopfbewegungen gegen einen Widerstand ausübt, trainiert er
seine Muskeln. Durch die Übungen wird der Muskelaufbau gefördert und damit die
Halswirbelsäule gestärkt. "Das ist letztendlich der gleiche Ansatz wie bei der
Physiotherapie - nur wesentlich effizienter", berichtet Dr. Michael Kramer vom
Uniklinikum Ulm. "Das haben unsere Studien ergeben."
"Noch ist die
Therapie-Einheit nicht serienreif. Der Prototyp ist noch nicht stabil genug für
den Dauereinsatz", betont der Mathematiker Rettig. Doch das soll sich bis zum
Ende des Projektes im Februar 2008 ändern. Danach wollen die Forscher das System
zur Serienreife bringen und ihre eigene Firma gründen. Bedarf an dem System
herrscht in jedem Fall.
Quelle: Pressemitteilung Informationsdienst Wissenschaft e.V.