Das Gehirn an der Grenze zum Chaos
Archivmeldung vom 19.11.2007
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittViele Systeme in der Natur steuern von selbst auf einen kritischen Zustand zu, der als höchst instabiles Gleichgewicht charakterisiert werden kann: Rieselt beispielsweise Sand langsam auf eine Oberfläche, häuft er sich an, bis der Böschungswinkel so steil ist, dass Sandlawinen die Böschung herunterstürzen. Dabei gibt es keine typische Lawinengröße, in zufälliger Reihenfolge entstehen in einem gewissen Zeitraum viele kleine Lawinen, in anderen Fällen wenige große.
Auch der Aufbau von Spannungen in der Plattentektonik der Erdkruste und die
jeweilige Entladung durch Erdbeben ist ein Beispiel für diese
"selbstorganisierte Kritikalität", wie das Phänomen im Fachjargon heißt. Dass
die Signalweitergabe im Nervensystem ebenfalls diesem Prinzip folgt, haben
Wissenschaftler um Michael Herrmann bereits 2002 auf der Basis von theoretischen
Berechnungen vermutet, in den darauf folgenden Jahren wurde dies auch
experimentell beobachtet. In einer neuen Studie ist es Herrmann nun gemeinsam
mit seinen Kollegen Anna Levina und Theo Geisel, Wissenschaftler am Bernstein
Zentrum für Computational Neuroscience, dem Max Planck Institut für Dynamik und
Selbstorganisation und der Universität Göttingen gelungen, die neuronalen
Mechanismen zu identifizieren, die diesem Phänomen zu Grunde liegen. Die Arbeit
wird in der renommierten Zeitschrift Nature Physics online am 18. November 2007
veröffentlicht.
Auch im Nervensystem gibt es Lawinen - nicht
Sandlawinen, sondern Lawinen neuronaler Entladung. Sendet eine Nervenzelle einen
elektrischen Impuls, so kann dies, muss aber nicht in einem nachgeschalteten
Neuron ebenfalls einen Impuls auslösen. Je nachdem, ob eine Impulsweitergabe
erfolgt und wie oft sich die Impulsweitergabe wiederholt, kommt es zu Ketten
neuronaler Entladungen mit einer jeweils sehr unterschiedlichen Anzahl von
Neuronen. "Auf diese Weise kann das Nervensystem das volle Spektrum seiner
Reaktionsmöglichkeiten ausschöpfen - mal reagiert es stärker, in anderen Fällen
weniger stark", erklärt Herrmann. Bisher gelang es in Computersimulationen nur
in Ausnahmefällen, ein neuronales Netzwerk in einen solchen kritischen Zustand
zu bringen. In ihrer neuen Studie ist es den Wissenschaftlern aus Göttingen
gelungen, selbstorganisierte Kritikalität eines Netzwerks im Computer
realitätsnah zu modellieren und zu erklären, indem sie berücksichtigten, dass
sich die Verbindungsstärke zwischen Neuronen durch die wiederholte neuronale
Aktivität abschwächt.
Neurone leiten Informationen in Form von
elektrischen Signalen weiter. Dort, wo zwei Neurone aufeinander treffen, an der
Synapse, ist aber die Leitung unterbrochen und das Signal wird durch Botenstoffe
von einer Zelle zur nächsten übertragen. "Der Vorrat an Botenstoffen wird durch
die Aktivität der Synapse reduziert, so dass die Stärke der Signalübertragung
abnimmt. Erst dadurch, dass der Speicher wieder aufgefüuellt wird, nimmt die
Effizienz der Synapse wieder zu", erklärt Levina. Lange Zeit hat man in dieser
Erschöpfung des Vorratsspeichers nichts weiter als eine biologisch bedingte
Unzulänglichkeit gesehen. Erst in den letzten Jahren wurde erkannt, dass dieser
Mechanismus - synaptische Depression genannt - für die Funktion des Gehirns
durchaus bedeutend ist. Die Wissenschaftler um Geisel haben nun erstmals
gezeigt, dass dieser synaptische Anpassungsmechanismus das neuronale Netz in den
Zustand selbstorganisierter Kritikalität an der Grenze zum Chaos treibt.
Quelle: Pressemitteilung Informationsdienst Wissenschaft e.V.