Hundert wird bald jeder
Archivmeldung vom 02.10.2007
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 02.10.2007 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDas Glück, seiner Oma eine Grußkarte zum 100. Geburtstag schicken zu können, haben heute nur Wenige. Im 22. Jahrhundert könnte das aber schon Normalität sein. Die Lebenserwartung in den Industriestaaten steigt weiter - "um zwei bis drei Jahre pro Dekade", prognostizieren Forscher des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung und der Universität Rostock.
Diesen Trend belegen auch die neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes: Im Vergleich zum letzten Jahr ist die durchschnittliche Lebenserwartung für neugeborene Jungen um fast fünf und die der Mädchen um dreieinhalb Monate gestiegen. Wir werden aber nicht nur immer älter, sondern wir bleiben auch immer länger gesund, wie eine neue Studie der Rostocker Wissenschaftler zeigt.
"Schon die Ernährung der Mutter während der Schwangerschaft
entscheidet über die Lebensspanne ihres Kindes", sagt Gabriele
Doblhammer-Reiter. Die Wissenschaftler gehen derzeit davon aus, dass die ersten
Jahre des Kindes die Lebenserwartung etwa zu zehn Prozent beeinflussen. So
lassen sich eine Reihe von Alterskrankheiten, wie Diabetes oder Bluthochdruck,
mitunter auf früheste Lebenseinflüsse zurückführen. Später spielen dann soziale
und finanzielle Lage, Bildung und Lebensstil eine entscheidende Rolle: Ganze 65
Prozent schreiben die Forscher diesen Faktoren zu. "Es bringt also immer noch
etwas, wenn sie mit 70 Jahren das Rauchen aufgeben", sagt Doblhammer-Reiter.
Wenn Eltern und Großeltern lange leben, heißt das also nicht unbedingt, dass
auch die Kinder sehr alt werden. Die Gene wirken sich vermutlich nur zu 25
Prozent auf die Lebenserwartung aus.
Am Hayflick-Limit ist
Schluss
Der Vorgang des Alterns ist ein komplexes Zusammenspiel aus mehreren Prozessen, die die Wissenschaft noch nicht vollständig aufgeklärt hat. Schon in den sechziger Jahren entdeckte Leonard Hayflick, ein amerikanischer Gerontologe, dass normale menschliche Zellen in Zellkultur sich nur rund 50-mal teilen können. Diese Grenze an möglichen Zellteilungen ist nach Hayflick genetisch vorgegeben. Sie wird als Hayflick-Limit bezeichnet.
Rund
zwanzig Jahre später fand die Wissenschaft auch heraus, wie es zu dieser
Limitierung kommt: Wenn sich eine Körperzelle teilt, wird das Erbgut unserer
Zellen, die DNA, verdoppelt. Dabei geht jedes Mal ein Stück davon verloren. Die
DNA liegt in jeder Zelle in Form von Chromosomen vor. Die Endstücke dieser
Chromosomen, die sogenannten Telomere, bestehen aus nichtkodierender DNA. Sie
dienen hauptsächlich dazu, dass ein Enzym, die DNA-Polymerase, andocken kann, um
das Erbmaterial bei der Zellteilung zu verdoppeln. Dabei verkürzen sich die
Telomere bei jeder Zellteilung, bis die DNA-Polymerase keine Andockstelle mehr
hat und die Zelle damit nicht mehr teilungsfähig ist.
"Auch wenn das
Hayflick-Limit existiert, so ist allerdings bis heute nicht klar, ob und wie
genau die Verkürzung der Telomere mit dem Altern zusammenhängt", sagt Annette
Baudisch vom Rostocker Institut. Das Hayflick-Limit liegt im Moment noch weit
hinter der heutigen Lebenserwartung. Es stirbt also niemand an zu kurzen
Telomeren. "Vieles weist darauf hin, dass das Hayflick-Limit die Zellen davor
bewahrt, sich unendlich teilen zu können - eine Eigenschaft, die Krebszellen für
uns so gefährlich macht", sagt Baudisch.
Attacke der Radikale
Eine weitere Erklärung für das Altern ist die Freie-Radikal-Theorie, die
heute von vielen Wissenschaftlern favorisiert wird. Nach dieser Theorie leiden
Zellen eines Organismus ständig unter so genanntem oxidativen Stress: Vor allem
bei Stoffwechselvorgängen entstehen in jeder Zelle reaktive Oxidantien wie das
Superoxid Anion (O2-). Diese oxidieren und schädigen lebenswichtige
Moleküle, wie zum Beispiel Fette, Proteine oder DNA. Nicht alle Schäden können
wieder repariert werden. Sie häufen sich im Laufe des Lebens an. Die Zelle und
somit der gesamte Organismus altern.
Lebenslange Diät - ein
Jungbrunnen
Könnten wir der Freien-Radikal-Theorie zufolge durch ständiges Diäthalten länger leben? Weniger Essen heißt, dass der Stoffwechsel reduziert wird und damit auch weniger reaktive Oxidantien in den Zellen gebildet werden. An Tieren wurde diese Hypothese schon bewiesen: Die Lebensspanne einiger Nagetiere, Würmer und Fliegen hat sich durch extreme Diät verlängert. "Wir können aber noch nicht genau sagen, wie sich eine lebenslange, strenge Diät auf die Lebensspanne des Menschen auswirken würde", sagt Annette Baudisch.
Die Befunde stimmen jedenfalls mit der Beobachtung überein,
dass eine Riesenschildkröte mit ihrer geringen Stoffwechselrate rund 200 Jahre
alt wird, eine Kohlmeise mit einer hohen Stoffwechselrate nur neun Jahre. Es
könnte außerdem eine Ursache dafür sein, dass streng diätetisch lebende
Japanerinnen der Insel Okinawa verglichen mit durchschnittlichen Amerikanerinnen
eine 2,5-fach erhöhte Chance haben, das Lebensalter von 100 Jahren zu
überschreiten.
Das Rätsel des Alterns
"Evolutionär
betrachtet ist die Alterung auf den ersten Blick ein Rätsel. Denn ein Organismus
ist fitter, also reproduktiver, wenn er jung und gesund bleiben kann", sagt
David Thomson, Evolutionsbiologe am Rostocker Max-Planck-Institut. "Alterung ist
also ein Nachteil, und man muss sich fragen, warum die Evolution es nicht
beseitigt hat." Klassische Theorien besagen, dass Altern sich unvermeidlich
entwickelt haben muss, da die Überlebenschancen mit steigendem Alter geringer
werden und damit der Selektionsdruck abnimmt.
Eine der bekanntesten
Theorien ist die des amerikanischen Evolutionsbiologen George C. Williams. Er
geht davon aus, dass das Altern umso schneller voranschreitet, je gefährlicher
die Umgebung des Individuums ist - also die Wahrscheinlichkeit, dass es zum
Beispiel verhungert, erfriert oder gefressen wird. Es lohnt sich in der Natur
demnach nicht, einen Organismus lange instand zu halten, da er ohnehin bald
sterben muss. Lebewesen nehmen deshalb einen schnelleren Alterungsprozess in
Kauf, um möglichst viele, gesunde Nachkommen zu produzieren.
"Das ist
wie beim Einkaufen", meint David Thomson. "Wir wägen Kosten und Nutzen ab. Auf
der Speisekarte des Lebens stehen dabei die biologischen Grenzen." Theoretisch
betrachtet verbraucht eine schwangere Frau zum Beispiel viel Energie, um ein
gesundes Kind in die Welt zu setzen. Durch den hohen Stoffwechselverbrauch
während der Schwangerschaft leidet sie dafür an einem hohen oxidativen Stress.
Sie also nimmt für gesunde, starke Nachkommen einen beschleunigten
Alterungsprozess in Kauf.
Hydras bekommen nie Falten
Neue
Studien zeigen, dass das Altern nicht unbedingt unvermeidlich ist. Die
Forschergruppe um David Thomson untersucht zum Beispiel den Süßwasserpolypen
Hydra. Bei diesem Hohltier konnten sie bis jetzt noch keinerlei Zeichen von
Altern entdecken. Die Wissenschaftler gehen heute davon aus, dass sich der
Alterungsprozess bei verschiedenen Lebensformen jeweils unterschiedlich
gestaltet. Diese Unterschiede können allerdings auch mit der
Kosten-Nutzen-Abwägung begründet werden: Manche Lebewesen nehmen lieber einen
rapiden Alterungsprozess in Kauf, um möglichst schnell viele Nachkommen zu
produzieren. Andere gehen es gemächlich an und investieren in ein langes Leben,
indem sie nur wenig Nachwuchs bekommen, dies jedoch in regelmäßigen Abständen
und über einen langen Zeitraum. "Nur wenn wir verstehen, warum und wie einige
Lebensformen dem Altern entkommen konnten, können wir auch verstehen, warum der
Mensch das Altern in Kauf nehmen muss", sagt Annette Baudisch.
Wir
sterben heute anders
Falls es für uns ein Alterslimit gibt, scheinen
wir es jedenfalls noch nicht erreicht zu haben. Die Lebenserwartung steigt von
Jahr zu Jahr. In den Industrieländern ist sie in den letzten 150 Jahren um ganze
40 Jahre gestiegen. Heute gibt es 45-mal mehr Hundertjährige als im Jahr 1960.
"Der medizinische Fortschritt, aber auch die veränderten Lebensbedingungen
spielen dabei die größte Rolle", sagt Gabriele Doblhammer-Reiter. Dank
Antibiotika und Impfungen sterben Menschen nur noch selten an
Infektionskrankheiten. Es wird mehr auf Hygiene geachtet als noch vor 100
Jahren, und der verbreitete Wohlstand hat die Mangelernährung eingedämmt. Die
Todesursachen haben sich dadurch verschoben. Die Menschen sterben heute vor
allem an chronischen Krankheiten, wie Krebs oder Herz-Kreislauferkrankungen. Und
auch diese können infolge des medizinischen Fortschritts immer besser behandelt
werden. "Die Menschen bleiben immer länger gesund und werden älter", sagt
Doblhammer-Reiter. Das belegt auch ihre Studie vom Mai 2007. Zusammen mit ihrer
Mitarbeiterin Uta Ziegler zeigt sie unter anderem, dass der Pflegebedarf in den
letzten zwanzig Jahren nicht proportional zur Alterung der westdeutschen
Bevölkerung angestiegen ist. Vielmehr sank das Risiko leicht, im Alter
pflegebedürftig zu werden.
Frauen leiden und leben
länger
Die Studie zeigte auch, dass der Pflegebedarf der Frauen ab einem Alter von 84 Jahren ansteigt, der der Männer aber abflacht. "Das ist ein Paradox. Frauen leiden öfter und länger an Krankheiten, werden im Durchschnitt aber älter als Männer. Umgekehrt sterben Männer also eher als Frauen, wenn sie krank sind. In den höchsten Altersgruppen bleiben daher nur die stärksten Männer übrig", so Doblhammer-Reiter. Das liegt unter anderem auch an den unterschiedlichen Erkrankungen: Frauen haben häufiger Krankheiten wie Arthritis, an denen man nicht zwingend früher stirbt. Männer sterben dagegen zum Beispiel oft an plötzlichen Herzinfarkten. "Das liegt unter anderem daran, dass Frauen gesundheitsbewusster leben als Männer. Sie rauchen zum Beispiel weniger", sagt die Forscherin. Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 50 Prozent des Unterschiedes in der Lebenserwartung auf das Rauchverhalten zurückgeht. "Männer sind außerdem risikofreudiger. Sie sterben öfter an nicht-natürlichen Todesursachen wie zum Beispiel Verkehrsunfällen oder Suizid", fügt Doblhammer-Reiter hinzu.
Aber nicht nur der gesündere Lebensstil, sondern auch biologische Faktoren scheinen dazu beizutragen, dass Frauen länger leben. Studien zeigen zum Beispiel einen positiven Effekt der weiblichen Geschlechtshormone auf Serumlipide im Blut, die das Risiko für Herzerkrankungen verringern.
Der bislang älteste Mensch war jedenfalls eine Frau. Jeanne
Calment aus der südfranzösischen Stadt Arles lebte 122 Jahre, fünf Monate und 14
Tage. Sie hat geraucht bis sie 119 war, regelmäßig große Mengen Schokolade
verzehrt und jeden Tag ein Glas Portwein getrunken. Auch ein gesunder Lebensstil
ist also kein allgemeingültiges Rezept für ein langes Leben.
Quelle: Pressemitteilung Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.