Deutschland hinkt meilenweit hinterher - Verbraucherschützer Oliver Huizinga fordert im Hinblick auf übergewichtige Kinder eine Zuckerabgabe und Werbebeschränkung
Archivmeldung vom 14.10.2016
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Freigeschaltet durch André Ott15 Prozent der Kinder in Deutschland sind zu dick, weltweit sind 42 Millionen Kinder unter 5 Jahren übergewichtig oder sogar fettleibig. Bei den Erwachsenen ist es jeder Dritte. Daher haben der Verband der Kinder- und Jugendärzte sowie die WHO Alarm geschlagen und eine Zuckersteuer gefordert, denn der Konsum von süßen Erfrischungsgetränken gilt als eine der Ursachen für Gewichtsprobleme. Oliver Huizinga, Experte für Kinderernährung bei der Verbraucherorganisation foodwatch, sagt im Gespräch mit unserer Zeitung, dass die Politik dringend Regelungen auf den Weg bringen müsse. Andere Länder seien schon weiter. Er befürwortet eine Zuckerabgabe für die Hersteller.
80 Liter zuckersüße Getränke konsumiert der Bundesbürger im Schnitt pro Jahr. Welche Risiken birgt erhöhter Zuckerkonsum?
Oliver Huizinga: Gerade die zuckergesüßten Getränke sind ein Sonderfall, denn schon vergleichsweise geringe Mengen erhöhen das Risiko für chronische Krankheiten. Wenn man zum Beispiel täglich eine Dose Cola trinkt, erhöht sich die Gefahr, Typ2-Diabetes oder Fettleibigkeit oder andere chronische Krankheiten zu bekommen. Das sind wirklich gefährliche Produkte. Daher ist es besonders wichtig, dass die Politik hier Maßnahmen unternimmt, um den Zuckergehalt dieser Getränke zu reduzieren und den Konsum zu verringern.
Ist es richtig, wie WHO und der Bundesverband der Kinderärzte fordern, den Zucker zu besteuern - schließlich gibt es auch andere Ursachen, die zu Übergewicht und Diabetes führen können?
Huizinga: Selbstverständlich gibt es dafür verschiedene Ursachen, so, wie auch Lungenkrebs verschiedene Ursachen hat. Trotzdem ist es richtig, dass man auch den Tabak, der nun mal Krebs verursachen kann, gezielt besteuert, um den Konsum zu verringern, was auch funktioniert, wie Statistiken belegen. Für die Zuckergetränke schlagen wir eine Abgabe vor, d.h. die Hersteller zahlen - so wie es in Großbritannien ab 2018 praktiziert werden soll - eine Strafe, wenn sie besonders viel Zucker in die Getränke mischen. Damit wird ein finanzieller Anreiz geschaffen, Rezepturen zu verbessern, also den Zuckeranteil zu reduzieren. Die Einnahmen sollen dann zweckgebunden verwendet werden, zur Förderung gesunder Kinderernährung.
Besteht dann nicht die Gefahr, dass diese Abgabe am Ende doch auf die Verbraucher abgewälzt wird?
Huizinga: Das Hauptziel einer solchen Regelung ist, dass die Hersteller den Zuckergehalt der sogenannten Erfrischungsgetränke senken. Wenn sie das tun, müssen sie diese Abgabe nicht zahlen. Die zuckerarmen, die zuckerfreien und die süßstofffreien Produkte wären gar nicht von unserem Vorschlag betroffen, also bleiben diese Preise stabil. Nur die Getränke, die Zuckerbomben bleiben, werden unter Umständen teurer. Aber es handelt sich hier ja nicht um Grundnahrungsmittel, sondern um Produkte, bei denen schon eine Dose täglich das Risiko für Krankheiten erhöht. Und die müssen nicht so günstig sein, dass schon Kinder sie palettenweise kaufen können.
Wie hoch sollte eine Zuckersteuer denn sein, damit sie wirkt, schließlich ist Zucker eine sehr preiswerte Zutat?
Huizinga: Die WHO empfiehlt eine 20-prozentige Abgabe. Die britische Regelung sieht vor, dass ab fünf Gramm pro 100 ml Zuckerzusatz 18 Pence pro Liter fällig sind. Es sollte auf jeden Fall ein hoher Betrag sein, denn schließlich sollen die Unternehmen animiert werden, ihre Rezepturen zu überarbeiten. Andernfalls würden Pepsi & Co. den Zuckergehalt nicht drastisch reduzieren. Das muss schon betriebswirtschaftlich wehtun und nicht aus der Portokasse bezahlt werden können.
Der Bund für Lebensmittelrecht und -kunde (BLL) betont, dass der Zuckerkonsum seit Jahren konstant ist. Wird die Zutat, die viele unserer Lebensmittel, auch Herzhaftes, versüßt, zu Unrecht verteufelt?
Huizinga: Wenn die Lebensmittelindustrie behauptet, der Zuckerkonsum sei konstant, dann ist das ein statistischer Trick und nur die halbe Wahrheit, denn sie bezieht sich ausschließlich auf Haushaltszucker. Andere Zuckerarten wie Glukose sind in dieser Statistik nicht enthalten. Der Zuckerkonsum ist keineswegs konstant, ganz im Gegenteil. Glukose zum Beispiel ist von 1,5 Kilogramm in den 60er-Jahren auf mittlerweile zehn Kilogramm pro Kopf pro Jahr gestiegen.
Das wird von der Industrie gern verschwiegen, weil sie den Mythos aufrechterhalten will, der Zucker sei ja gar nicht so schlimm. Das sehen nicht nur wir anders, sondern auch die WHO, Diabetologen, Adipositas- und Kardiologen-Verbände, die Krebsgesellschaften - alle medizinischen Fachleute sprechen hier mit einer Stimme, doch die Industrie behauptet einfach das Gegenteil.
Sind zuckerreduzierte oder zuckerfreie Getränke, die Süßstoffe enthalten, eine Alternative? Huizinga: Das ist noch sehr umstritten. Es ist möglich, dass beim Konsum solcher Getränke ein anderer Effekt eintritt: Der süße Geschmack, den wir trotzdem haben, suggeriert dem Körper, dass er Kalorien bekommt, und wenn diese ausbleiben, will er sich die "vermissten" Kalorien an anderer Stelle besorgen, also essen oder trinken wir mehr. Das ist noch nicht ausreichend erforscht. Was auf jeden Fall zutrifft, ist, dass auch hier eine Süßgewöhnung entsteht, die dazu beiträgt, dass wir uns zuckerreicher ernähren. Wirklich gesunde Getränke sind also nur Wasser und ungesüßte Tees.
Wie steht es mit der Eigenverantwortung der Verbraucher: Darf die Politik Ernährungsweisen vorgeben?
Huizinga: Es geht hier nicht um Vorschriften für uns Verbraucherinnen und Verbraucher, sondern darum, dass derzeit die Anreize, sich ungesund zu ernähren, allgegenwärtig sind. Dazu tragen das Marketing der Lebensmittelwirtschaft, das sich an Kinder richtet, die unverständliche Kennzeichnung und die jederzeitige Verfügbarkeit von sehr stark verarbeiteten, zuckerreichen Produkten bei. Diese Anreize sollten durch solche ersetzt werden, die eine gesunde Ernährungsweise erleichtern: Bessere Rezepturen, bessere Kennzeichnung, weniger manipulative Werbung.
Einige Politiker setzen auf das Motto "Bildung statt Zucker" und wollen mehr Aufklärung in Kindergärten und Schulen. Wäre das eine Alternative?
Huizinga: Es gibt schon seit einigen Jahrzehnten solche Programme, doch die funktionieren leider nur sehr begrenzt. Natürlich ist es wünschenswert, mit Aufklärung und Bildung die globale Epidemie von Adipositas und Diabetes zu bekämpfen. Doch mit Bildungsmaßnahmen und ein paar Unterrichtsmaterialien allein wird man nicht viel ändern. Deshalb fordern auch die WHO und andere Fachverbände Maßnahmen, die darüber hinausgehen. Zum Beispiel eine bessere Kennzeichnung der Nährwerte, eine, die die Verbraucher auch verstehen, und eine Beschränkung der an Kinder gerichteten Werbung, aber auch finanzielle Anreize für Hersteller, damit sie weniger Zucker verwenden.
Die Werbung spielt eine große Rolle bei der Auswahl von Lebensmitteln, suggeriert oft gesundheitsfördernde Eigenschaften, und verdeckt schlechte. Sollte der Gesetzgeber hier eingreifen?
Huizinga: Ja, absolut. Das größte Problem, das wir im Bereich der Werbung haben, ist, dass sie sich mit ungesunden Produkten direkt an Kinder wendet. Wir wissen, dass die Hersteller mit ungesunden Produkten das meiste Geld verdienen. Die Gewinnmargen bei Süßgetränken und Knabberartikeln sind drei- bis viermal so hoch wie bei Obst und Gemüse.
Daher haben die Hersteller ein großes Interesse daran, Kinder schon frühzeitig an diese kalorienreichen Produkte zu gewöhnen. Geschmack und Vorlieben werden auf diese Weise langfristig geprägt. Nur ein Bruchteil der Werbeausgaben betrifft gesunde Lebensmittel wie Obst oder Gemüse. Eine Beschränkung der Werbung ist daher dringend geboten, andere Länder machen das auch schon, Deutschland hinkt hier meilenweit hinterher.
An welche Länder und Beispiele denken Sie? Huizinga: In Schweden und auch in Großbritannien gibt es Einschränkungen für Fernsehwerbung, die sich an Kinder richtet. In Chile gibt es ein noch strikteres Gesetz, das auch andere Werbeformen einschließt.
Wir wissen, dass an Kinder gerichtetes Marketing diese stark beeinflusst, deshalb ist es auch logisch, dass Veränderungen von Marketingstrategien einen positiven Effekt auf die Konsumpräferenzen haben können. Die Bundesregierung lehnt solche Werbebeschränkungen ab und tut so, als wäre das eine Bevormundung der Verbraucher. Wenn die Lebensmittelindustrie schon kleine Kinder, die leicht zu manipulieren sind, mit Werbebotschaften bombardieren darf, ist das doch eher als Bevormundung anzusehen.
Ist es denn richtig, Zucker zu besteuern, schließlich sind auch zu viel Fett und zu viel Salz gesundheitlich bedenklich?
Huizinga: Ja, das stimmt. Es sind auch noch andere Maßnahmen notwendig. Auch Werbung für Fastfood oder Junkfood sollte wegen des hohen Fett- und Salzgehalts eingeschränkt werden. Es sollte für solche Produkte keine an Kinder gerichtete Werbung und auch keine Werbung mit Gesundheitsversprechen geben. Dafür gibt es bereits ein Nährwert-Modell von der WHO, das man hier anwenden könnte. Die WHO hat sehr gute Kriterien für die Bewerbung von Lebensmitteln bereitstellt. Bislang aber lehnen es die Bundesregierung und die EU ab, diese umzusetzen.
Was halten Sie von der Lebensmittelampel auf Produkten, die über Zucker-, Salz und Fettgehalt informiert? Huizinga: Neben Sonderabgaben und Werbebeschränkungen wäre eine Kennzeichnung eine dritte Säule, die eine gesunde Ernährung fördern kann. Die Lebensmittelampel wäre ein sehr gutes Modell gewesen, endlich Transparenz darüber zu schaffen, wie viel Zucker etc. tatsächlich in den Produkten enthalten ist.
Auch die Vergleichbarkeit von Produkten wäre dann einfacher mit einer farblichen Kennzeichnung auf der Vorderseite der Verpackung. Aber die Wirtschaft hat sich mit allen Mitteln dagegen gestellt und hat mit einer beispiellosen Lobbykampagne erreicht, dass diese Kennzeichnung nicht eingeführt wurde. Und das, obwohl Krankenkassen, Verbraucherverbände, Ärztevereinigungen und die Mehrheit der Verbraucher die Ampel gewollt haben. Die Politik muss endlich aufhören, der Lebensmittelwirtschaft auf den Leim zu gehen - und anfangen, auf die medizinischen Fachleute und die WHO zu hören.
Quelle: Landeszeitung Lüneburg (ots)