Liebe geht DOCH durch den Magen: Martins Gans
Archivmeldung vom 10.11.2012
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 10.11.2012 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittFamilienfeiern geben oft willkommenen Anlass dazu, Menschen zu sehen, die man für Jahre fast aus den Augen verloren und vermisst hat. Manchmal lernt man auch zukünftige Verwandte kennen, über deren Existenz man nicht wirklich erfreut ist ...
Das Jahr besteht aus 365 Tagen. Es sei denn, es ist ein Schaltjahr – dann hat es einen Tag mehr. Diese Erkenntnis ist irgendwie nicht gerade neu und Du hast den Eindruck, das, was an diesen 365 oder 366 Tagen passiert, ist genauso wenig originell: Routinen, Rituale und Wiederholungen. Manche davon sind okay, manche fürchterlich, der größte Teil lässt Dich kalt. Und ein paar wenigstens sind es wert, dass Du Dich darauf freust. Aus ganz unterschiedlichen Gründen.
Die Tradition in Deiner Familie, sich zu St. Martin (oder dem nächstgelegenen Sonntag) zum gemeinsamen Gänse-Essen zu versammeln, gehört eigentlich nicht wirklich zu den Dingen, die Du übermäßig schätzt. Doch Ausnahmen bestätigen die Regel.
Als Dir Deine Cousine Melanie mitteilt, ihr Bruder Martin werde ausnahmsweise auch erscheinen, beginnst Du plötzlich, dieser sonst für Dich nur als „3L-Feier“ („laut und lebensbedrohlich langweilig“) bezeichneten Veranstaltung mit Spannung und Freude entgegenzusehen. Schließlich wart ihr, Martin und Du, in Eurer Kindheit fast unzertrennlich, seid zusammen auf Bäume geklettert und habt miteinander Fußball gespielt … was für Martin dann tatsächlich zu einem Beruf geworden ist. Und auch wenn er es nie ganz nach oben geschafft hat, so war er doch für eine gewisse Zeit eine regionale Berühmtheit, jemand mit dem Du mächtig angeben konntest.
Das ist eine Weile her und heute verdient er sein Geld mit seinem eigenen Sportgeschäft in einer anderen Stadt und unterstützt den Nachwuchs seines Vereins.
Und Du hast sowohl das Klettern als auch das Fußballspielen schon lange aufgegeben. Du bist in die Rolle einer Bankerin hineingewachsen, die Fußballschuhe sind Pumps gewichen. Manchmal scheint es, als seist Du sogar erwachsen geworden. Obwohl einige vehement das Gegenteil behaupten. Dein geschiedener Mann zum Beispiel … und zwar immer dann, wenn er darüber spricht, warum Eure Ehe gescheitert ist.
Martin war nie verheiratet gewesen. Er hatte seine weiblichen Fans gehabt, die Du nur stets als „Martins Gänse“ bezeichnet hattest: sie hatten sich um ihn geschart und sein Lob geschnattert. Also fast so, wie es – nach der Legende - die Gänse von Tours getan hatten. Nur mit dem Unterschied, dass sie es nicht um Martins, sondern um ihrer selbst willen getan hatten und dass Dein Cousin nie wirklich nahe daran gewesen war, für einen Heiligen gehalten zu werden.
Umso erstaunlicher ist es nun, dass Melanie Dir verkündet, ihr Bruder werde nicht allein zum familiären Gänseschmaus erscheinen, sondern in Begleitung seiner Verlobten. Eine Ankündigung, die in Dir sehr gemischte Gefühle auslöst: Erstaunen, Neugier … und einen gewissen Widerwillen, den Du Dir weder erklären kannst, noch erklären möchtest.
„Armes Ding“, sagt Melanie.
„Wieso?“ fragst Du, während Du noch an dieser Eröffnung kaust.
„Na, was denkst du? Du kennst doch unsere Sippe. Alle werden sie begaffen und über sie tuscheln. Wir müssen nett zu ihr sein.“
„Mhm“, brummst Du nur und denkst „Okay – 'nett', das kann nicht so schwer sein.“
Wenn sich Deine Familie einmal zusammenrottet, was glücklicherweise nur zwei- bis dreimal im Jahr passiert, dann tut sie es mit großen Gesten, lauten Stimmen und einer motorischen Energie, die zu steter Bewegung führt. Da ist immer irgendwer am Hinausgehen oder Hereinkommen, da werden am Tisch ständig Dinge hin und her gereicht oder wenigstens Stühle, Geschirr oder Gläser gerückt und verschoben. Deine Sippe kann einfach nicht still sein, nicht für einen Moment. Zumindest glaubtest Du das bisher. Genau bis zu dem Zeitpunkt, als Martin mit seiner Verlobten durch die Tür kommt.
Zuerst denkst Du, es ist eine Schrecksekunde. Aber es ist viel länger als eine Sekunde und Du bist nicht sicher, ob es wirklich so etwas wie Erschrecken ist, was mit einem Mal das Rauschen des üblichen Geschwätzes dämpft und die sonst herrschende Betriebsamkeit bis zur Zeitlupe herunter zu bremsen scheint. Und Du könntest nicht sagen, ob es an ihm, Martin, liegt oder an ihr oder an beiden.
Ihr habt einander schon eine Weile nicht mehr gesehen, aber ihr habt geschrieben und telefoniert … bis dann, vor zwei Jahren, Du den Kontakt zu Deinem Cousin hattest versanden lassen, so wie zu fast allen anderen Menschen. Das war während Deiner Scheidung gewesen.
Aber auch dann und später hattest Du bei den üblichen familiäre Anlässen Bilder gesehen von ihm. Alle hatten sie gesehen, denn Tante Sophie, seine Mutter, hätte niemanden entkommen lassen, ohne einen Blick darauf zu werfen. Und Martin hatte immer wie Martin ausgesehen.
Wie, so fragst Du Dich in dem Moment als er hereinkommt mit dieser Frau im Arm, kann jemand gleichzeitig über Jahre hinweg immer gleich aussehen und doch auf einmal komplett verändert wirken? Und wieso verlobt sich Dein Cousin, der Jahrzehnte lang nicht nur Dein Schwarm war, der immer das Strahlen eines Helden an sich gehabt hatte, mit einer so nichtssagenden Frau?
Gut, sie ist deutlich jünger als er. Könnte er denn schon in der Midlife-Crisis sein? Und sie sieht auch nicht wirklich schlecht aus … sie sieht eigentlich eher gar nicht aus.
Du schaust an Dir selbst hinunter: Dein blauer Hosenanzug, die weiße Bluse, die weißen Pumps, die Du Dir speziell für diesen Anlass gekauft hast, obwohl Du das nie zugeben würdest … Das ist nicht wirklich aufgebretzelt, aber es ist – stilistisch gesehen – eine Aussage.
Und da dieses kleine Ding in diesem Pullover, der viel zu groß an ihr aussieht und in diesen Jeans, die zu klein an ihr aussehen …
„Ein Kind“, sagst Du zu Melanie, als ihr Euch eine halbe Stunde später verschwörerisch in der Küche trefft – und es gelingt Dir, diese beiden Worte so auszusprechen, dass sie die perfekte verbale Entsprechung Deines Gesichtsausdrucks sind, wenn Du ein benutztes Papiertaschentuch in den Abfalleimer fallen lässt.
„Sie ist doch irgendwie … nett“, meint Deine Cousine und sieht dabei so hilflos aus, wie sie klingt.
„Das scheint dein neues Lieblingswort zu werden“, merkst Du an.
„Was?“
„Nett.“ Und Du streckst Dein Kinn nach oben; eine Angewohnheit, die noch aus der Zeit stammt, als Du geraucht hast. Damals wäre sie von einem zischend aus Deinen Lungen geblasenen Rauchschwall begleitet worden. Das ist das erste Mal, dass Du es bereust, dem Nikotin abgeschworen zu haben.
„Was hast du gegen sie?“ will Melanie wissen.
Du lässt den Kopf zur Seite und dann nach unten kippen und siehst sie über den nicht vorhandenen Rand einer nicht vorhandenen Brille an mit einem 'Was-für-eine-dumme-Frage!'-Blick, der sie zum Rückzug veranlasst.
Ja, was hast Du gegen sie? Martin hat Dich beim Hereinkommen gebührend gewürdigt und mit Freude begrüßt, hat zu diesem Kind gesagt: „Und das ist Lisa“. Da hat sie Dir ihre Rechte hingehalten und mit diesem Kleine-Mädchen-Lächeln und einer erstaunlich festen, aber doch leisen Stimme gesagt: „Es ist so schön, dich endlich mal zu treffen.“ Und Du hast auch gelächelt.
Seitdem beobachtest Du sie, mehr noch, als es Deine Verwandten tun. Irgendwie scheinen sie sich nach dem ersten Erstaunen rasch wieder beruhigt zu haben. Du nicht. Du kannst es immer noch nicht fassen. Das ist sie also: Martins Gans.
Dann, nachdem die wahren Gänse in duftend gebratenem Zustand dem Hunger der Versammelten zum Opfer gefallen sind, trefft ihr beim Abräumen in der Küche zusammen … an der Spülmaschine, bei dem Versuch dort noch irgendwo etwas hinein zu stopfen.
Dass Deine Eltern und Deine Tante sich das Grundstück Deiner Großeltern teilen und somit in zwei Küchen gleichzeitig gekocht werden kann, ist praktisch …. und der einzige Weg, eine solche Feier überhaupt auszurichten, ohne ein Catering zu bestellen. Und keine Firma könnte einen Gänsebraten so zubereiten wie Deine Tante Sophie, davon sind alle überzeugt. Trotzdem sind es zwei normale Küchen und die Spülmaschinen sind schlichtweg überfordert.
Martins Verlobte zieht sich zurück und beginnt, die Essensreste von den Tellern zu entfernen, damit man sie für den nächsten Spülgang aufstapeln kann. Es ist plötzlich so ruhig um Euch, dass man die Stille greifen kann.
„Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt, Martin und du?“ fragst Du, teils aus echter Neugierde, teils aus dem simplen Zwang heraus, etwas zu sagen.
Sie streicht sich eine Strähne ihres langen dunklen Haars hinters Ohr, bevor sie antwortet: „Das war beim Fußball. Komischerweise. - Also nicht ein richtiges Spiel oder so. Martin hatte die Kinder übernommen, weil der Trainer krank geworden war. Und ich hatte meiner Schwester versprochen, meinen Neffen abzuholen. Und da war er … Martin, meine ich. Er hat Bälle weggeräumt ... in einen Schrank.“
Sie macht eine kleine Pause und Du merkst an ihrem Gesicht, dass sie es noch einmal erlebt. Sie beginnt zu lächeln. Und nun sieht sie plötzlich gar nicht mehr so nichtssagend aus wie vorher. Dann sagt sie: „Weißt du, ich kann es nicht beschreiben … Er hat einfach nur die Bälle in den Schrank getan, aber …. er war dabei so … anmutig ...“
„Anmutig?“ echost Du.
Martin war schon immer groß und breit in einer sportlichen Weise. Alles an ihm ist groß und breit … zumindest alles, was man sehen kann … da ist nichts, was Du als 'anmutig' bezeichnen würdest. Tatsächlich hast Du immer sein Geschick bewundert, im Spiel nicht über seine eigenen riesigen Füße zu fallen.
Sie zuckt verlegen die Schulter.
„Du interessierst dich für Fußball?“ fragst Du.
Sie beginnt wieder an den Tellern zu arbeiten und antwortet: „Jetzt schon. Vorher nicht.“
„Spielst du denn?“
Sie lacht. „Ich trete nach Bällen. Manchmal. Es macht Spaß. - Du hast gespielt“, stellt sie dann fest.
„Das ist lange her.“
Du siehst Dich nach dem Nachtisch um. Deine Tante hat Dir aufgetragen, ihn mit ins Esszimmer zu bringen … als nächsten und vorerst letzten Gang. Eine große Schüssel steht auf der anderen Seite der Anrichte. Auf ihrer Seite.
„Nimm die Schüssel da mit“, sagst Du und deutest darauf, „was immer es auch ist.“
„Was Schokoladiges mit einem Spritzer Alkohol“, sagt sie, „Wir haben das gemacht.“
„Wir?“
„Martin und ich“, sie nickt, um es zu bestätigen.
„Martin in der Küche?“ fragst Du lachend.
„Ja“, bestätigt sie, „Es macht ihm großen Spaß. Uns beiden. Er lernt kochen. Und ich lerne Fußballspielen.“
In diesem Augenblick wird Dir alles klar: warum Du diese Frau nicht leiden konntest und warum Dein Cousin sie liebt. Offenbar kann sie in ihm einen Mann sehen, den vorher noch nie jemand zu Gesicht bekommen hat, auch Du nicht … und der doch immer da war und nur darauf gewartet hatte, endlich wahrgenommen zu werden. Ein anmutiger Mann, der gern kocht.
Du gehst zu ihr hinüber, legst ihr eine Hand auf die Schulter und sagst: „Eins musst du über diese Familie wissen – sie ist prinzipiell gutmütig und freundlich, außer wenn sie hungrig ist und auf Essen warten muss. Manche von uns werden dann sogar zickig und bösartig. Aber das ist nicht ernst zu nehmen. Und es vergeht.“
Du siehst an ihrem Gesicht, dass sie nicht weiß, was sie darauf erwidern soll. Also drückst Du ihr die Schüssel mit dem Dessert in die Hände und sagst schlicht „Willkommen“.
Und als ihr die Küche verlasst, weißt Du, dass die einzigen Martinsgänse, die an diesem Tag in diesem Haus waren, sich auf den Tellern befanden und ein wohlschmeckendes Ende erlitten haben.
Text von Herbert Jost-Hof
Passend zur Kolumne von Herbert Jost-Hof folgt hier nun das Rezept (das Zweite ist vegan).
Spaghetti Sankt Martin
Zutaten für 4 Portionen
2 Stück Gänsebrust, á 300 Gramm
Salz und Pfeffer
250 g Leber von der Gans
2 Paprikaschote(n), (1 rot 1 gelb)
2 Zehe/n Knoblauch
80 g Schalotte(n)
2 Zweig/e Rosmarin, klein
2 Zweig/e Salbei
2 Stiel/e Majoran
250 ml Fond von der Gans
2 EL Sherry, trocken
200 ml Schlagsahne
500 g Nudeln (Spaghetti)
Zubereitung
Den Backofen auf 200 Grad vorheizen. Die Haut von den Gänsebrüsten ablösen, in feine Streifen schneiden und in einer heißen Pfanne goldbraun rösten, mit einer Schöpfkelle herausnehmen, auf Küchenpapier abtropfen und beiseite stellen. Brustfleisch mit Salz und Pfeffer würzen und im heißen Gänsefett in der Pfanne auf jeder Seite 3 Minuten braten. Dann in den Backofen auf der 2. Einschubschiene von unten 10 Minuten offen weitergaren. Fleisch herausnehmen, in Alufolie wickeln und 15 Minuten ruhen lassen, danach in ½ cm große Würfel schneiden.
Leber kalt abspülen, trocken tupfen, putzen, in 1 cm große Würfel schneiden. Paprikaschoten vierteln, entkernen, in kochendem Salzwasser 5-6 Minuten blanchieren, abschrecken, häuten und in sehr fein würfeln. Knoblauch pellen, hacken, Schalotten pellen, fein würfeln, Kräuter von den Stielen zupfen und klein schneiden.
Leber in der Hälfte des Gänsefetts in der Pfanne kurz braten, dann mit der Schaumkelle herausnehmen und beiseite stellen. Die Fleischwürfel im heißen Bratfett unter Wenden kurz anbraten, ebenfalls herausnehmen. Knoblauch und Schalotten in dem Bratfett andünsten. Mit dem Fond ablöschen und um die Hälfte reduzieren. Sherry, Sahne, und die Kräuter zugeben und cremig einkochen. Salzen und Pfeffern. Fleisch, Leber und Paprikawürfel zugeben und in der Soße erwärmen.
Salzwasser zum Kochen bringen, Spaghetti nach Packungsanweisung kochen, abgießen und abtropfen lassen. Spaghetti mit der heißen Fleischsoße in einer vorgewärmten Schüssel mischen, mit den gerösteten Hautstreifen bestreuen und sofort servieren.
Arbeitszeit: ca. 1 Std.
Rotkohlsalat mit Orangen (Dieser Rotkohlsalat schmeckt auch ohne Gans)
Zutaten für 6 Portionen
800 g Rotkohl
1 TL Meeralz
1 Bund Lauchzwiebel(n), in feinen Ringen
3 Orange(n), unbehandelt
5 EL Orangensaft
5 EL Orangenlikör (kann auch weggelassen werden)
4 EL Balsamico
4 EL Öl, z.B. Nussöl
½ TL Korianderpulver
Pfeffer
evtl. Meersalz
2 EL Petersilie, glatte, gehackt
Zubereitung
Den Rotkohl ohne Strunk hobeln, 1 TL Salz darüber streuen und ca. 5 Minuten kräftig stampfen. Die Orangenschale abreiben, danach schälen und filetieren. Die Zwiebelringe und die Orangenfilets mit dem Rotkohl mischen.
Aus Korianderpulver, Pfeffer, evtl. etwas Salz, Balsamico, Orangensaft, Orangenabrieb, Orangenlikör und Öl eine Marinade herstellen. Den Salat mehrere Stunden darin marinieren. Mit der gehackten Petersilie bestreut servieren.
Arbeitszeit: ca. 30 Min.