Druckchemikalien in Kartonsäften: Seehofer schützte Getränkeindustrie vor Verbrauchern
Archivmeldung vom 23.09.2009
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittMehr als drei Jahre verweigerten der frühere Verbraucherschutzminister Horst Seehofer und zuletzt auch seine Amtsnachfolgerin Ilse Aigner (beide CSU) verbissen die Einsicht in bzw. die Herausgabe von Akten über die 2006 von der Deutschen Umwelthilfe e.V. (DUH) aufgedeckte Kontamination von Getränkekartonsäften mit der Druckchemikalie Isopropylthioxanthon (ITX).
Die DUH hatte die Herausgabe zunächst auf Basis des Informationsfreiheitsgesetzes, später auf Basis des 2007 verabschiedeten und am 1. Mai 2008 in Kraft getretenen Verbraucherinformationsgesetzes (VIG) gefordert. Seehofer hatte das VIG bei der Verabschiedung als "Durchbruch zu mehr Information und Markttransparenz" gefeiert.
Trotz einer Serie von fünf Gerichtsurteilen, bis hin zur höchstrichterlichen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes, die allesamt die Rechtswidrigkeit der Auskunftsverweigerung durch die Bundesregierung feststellten, schützte das Ministerium mit seiner Informationsblockade die für den Lebensmittelskandal verantwortliche Industrie - zu Lasten der Verbraucherinnen und Verbraucher - und führte damit nebenbei das neue Verbraucherinformationsgesetz (VIG) ad absurdum. Das Gesetz sollte es Verbraucherinnen und Verbrauchern erstmals ermöglichen, einen bundesweit einheitlichen und besseren Zugang zu verbraucherrelevanten Behördeninformationen zu erhalten. Den Behörden vorliegende Informationen müssen danach innerhalb von vier, in Sonderfällen innerhalb von acht Wochen zur Verfügung gestellt werden. Bei der ITX-Kontamination dauerte es knapp vier Jahre oder 190 Wochen, bis das Ministerium ungeschwärzte Untersuchungsergebnisse offen legte.
"Die gerichtlich angeordnete Offenlegung der Akten zum ITX-Skandal zeigen eine erschreckende Kumpanei des CSU-geführten Verbraucherschutzministeriums mit der Industrie. Der heutige bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer hat als Verbraucherschutzminister systematisch eigenes Recht gebrochen und den Bürgern zustehende Informationen über kontaminierte Kartongetränke verweigert", sagte DUH-Bundesgeschäftsführer Jürgen Resch. Die nun vorliegenden Analysedaten aus den Jahren 2005 und 2006 seien jedoch für die Beurteilung der Lebensmittelqualität nutzlos, da die entsprechenden Getränke eine Haltbarkeit von drei bis zwölf Monaten hatten. Seehofer habe ganze Arbeit geleistet und das Verbraucherinformationsgesetz dazu missbraucht, die betroffene Wirtschaft vor den Verbrauchern zu schützen.
Der Berliner Anwalt Remo Klinger, der die DUH in den langwierigen Verfahren vertreten hatte, stellte nach der jahrelangen Auseinandersetzung fest: "Das Ministerium wird lernen müssen, dass die heute existierenden Informationsrechte genuine Bürgerrechte sind. Wenn sich selbst das Verbraucherschutzministerium über das Verbraucherinformationsgesetz hinweg setzen wollte, ist dies ein verheerendes Signal für den Verbraucherschutz in Deutschland."
Knapp vier Jahre nachdem die ersten ITX-Belastungen von Kartonlebensmittel bekannt wurden und nach mehr als drei Jahren juristischer Auseinandersetzungen mit dem CSU-geführten Ministerium hat die DUH nun erstmalig Einsicht in ungeschwärzte Informationen zur Belastung von Getränkekartonprodukten mit der Druckchemikalie ITX erhalten. Die Unterlagen belegen, was zu befürchten war: Den Verantwortlichen lagen bereits seit November 2005 Informationen über die Chemikalienbelastungen von Getränkekartonprodukten vor. Danach reichte die wissenschaftliche Datenlage damals keineswegs für Unbedenklichkeitserklärungen, hinsichtlich möglicher gesundheitlicher Folgen von ITX beim Menschen. Nach Einschätzung des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) konnte von einer Unbedenklichkeit lediglich bei Belastungen von weniger als 50 Mikrogramm je Kilogramm ausgegangen werden. In von der DUH veranlassten Analysen wurden jedoch Werte in Lebensmitteln gemessen, die mit bis zu 405 Mikrogramm je Kilogramm den "Unbedenklichkeitswert" um ein Vielfaches überschritten, die staatlichen Untersuchungsstellen stellten mit 600 Mikrogramm sogar eine bis zu 12-fache Überschreitung des Unbedenklichkeitswertes fest.
Während diese Sachlage, etwa in Italien dazu führte, dass ITX-belastete Getränkekartons zum Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher binnen Stunden flächendeckend aus den Regalen genommen und vernichtet wurden, einigte sich das Seehofer-Ministerium in nichtöffentlicher Abstimmung mit der verantwortlichen Wirtschaft darauf, den Chemiecocktail durch die Kehlen der Verbraucher zu entsorgen. Erst nachdem die DUH in eigenen Untersuchungen ab Januar 2006 hohe ITX-Werte feststellte, gab das Ministerium zu, schon seit Monaten von den Belastungen zu wissen.
"Das Verbraucherschutzministerium verdient seinen Namen nicht, wenn es den Interessen der Industrie mehr Gewicht beimisst als seinen eigentlichen Schutzbefohlenen. Faktisch verständigten sich Industrie und Politik darauf, mit der Gesundheit der Verbraucherinnen und Verbraucher Roulette zu spielen", so Resch.
Die von der DUH im Jahr 2006 festgestellten ITX-Belastungen waren Ergebnis des Druckverfahrens für Getränkekartons insbesondere der beiden Hersteller Tetra Pak und Elopak, bei dem es zu direktem Kontakt zwischen der Innenoberfläche und der bedruckten Außenseite der Getränkekartons kommt. Die Verpackungsindustrie zog ITX schließlich und teilweise mit mehrjähriger Verspätung aus dem Verkehr und verwendet seitdem andere Chemikalien zum Bedrucken der Getränkekartons. Dabei handelt es sich jedoch erneut um Chemikalien, für die keine ausreichenden toxikologischen Daten vorliegen und die für den Kontakt mit Lebensmitteln nicht geeignet sind. Ausweislich interner Akten des Verbraucherschutzministeriums wird auch dort die Rechtskonformität einer solchen Praxis bezweifelt. Auf mehrfache Nachfragen der DUH bei Tetra Pak und Elopak verweigerten diese Unternehmen eine Auskunft über die derzeit zum Einsatz kommenden ITX-Ersatzchemikalien.
"Da die Industrie ihre Druck- und Produktionsverfahren von Getränkekartons nicht grundlegend verändert hat, kann der Abrieb von Chemikalien aus den Druckfarben bzw. der Übergang durch den Karton selbst bis zum heutigen Tag nicht ausgeschlossen werden", warnte Maria Elander, die Leiterin der Kreislaufwirtschaft bei der DUH. Nach Auskunft des Verbraucherschutzministeriums wird offensichtlich eine Vielzahl neuer so genannter Photoinitiatoren aktuell als Druckchemikalien in der Verpackungsindustrie eingesetzt. Über deren Gesundheitsrelevanz gibt es jedoch nur in Ausnahmefällen Kenntnisse. So hat sich das dem Aigner-Ministerium unterstellte Bundesinstitut für Risikobewertung ungewöhnlich deutlich gegen diese Ersatzstoffe ausgesprochen. Zitat aus einer Stellungnahme des BfR vom 2. April 2008: "Den Ersatz von ITX durch andere Photoinitiatoren, für die derzeit keine oder keine ausreichenden toxikologischen Daten zur Verfügung stehen, hält das BfR für nicht sachgerecht".
Es sei "geradezu zynisch, wenn Mitarbeiter des Verbraucherschutzministeriums den Einsatz von toxikologisch nicht bewerteten Alternativen zu ITX in der Praxis stillschweigend dulden", kritisierte Resch. Zum Schutz der Gesundheit aller Verbraucherinnen und Verbraucher müsse sichergestellt werden, dass nur noch der Einsatz von chemischen Substanzen zulässig ist, die eindeutig und in Langzeituntersuchungen bestätigt als unbedenklich eingestuft werden.
Quelle: Deutsche Umwelthilfe e.V.