Braucht das Internet einen Neustart?
Archivmeldung vom 22.12.2018
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 22.12.2018 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDie Forderung nach freier Information hat das Internet auf die Werbung gebracht. Der Werbewahn hat eine Überwachungsmaschinerie geschaffen, die nun selbst den Internet-Giganten Sorgen bereitet. Das russische online Magazin "Sputnik" fragtin einem Bericht: Braucht das Internet einen Neustart? Nein, aber eine bessere Regulierung und verantwortungsvolle Schöpfer, findet der Informatiker Moshe Vardi.
Weiter ist hierzu auf der deutschen Webseite zu lesen: "Ein Artikel hat in den USA die Geister geschieden und für viel Empörung gesorgt, wird doch gleich in seiner Überschrift die Behauptung aufgestellt, Hippies hätten das Internet zerstört. Hippies assoziiert man doch eher mit Liebe und Frieden als mit Zerstörung. Wie kommt also der Informatiker und Autor des Artikels, Moshe Vardi von der texanischen Rice Universität, auf solch eine sonderbare Idee?
Es geht in seiner Geschichte in erster Linie um die Informationsfreiheit, die Überzeugung also, dass Information für jeden jederzeit frei zugänglich sein sollte, damit keine Ungleichgewichte in der Gesellschaft entstehen. Den Hippies ging es als einer Gegenkultur-Bewegung um Freiheit im weitesten Sinn: Die Freiheit vor Eingriffen der Regierung ins Soziale, die Freiheit von Frauen in Beziehungen, die sexuelle Freiheit aller Menschen und natürlich die Freiheit aller durch Vermeidung von Kriegen.
Von Ted Nelson, dem Mann, der 1965 den Begriff „Hypertext“ prägte, war ein Internet mit kostenlos erhältlicher Information noch nicht vorgesehen, erzählt Vardi die Geschichte. Vielmehr habe er an das Konzept der „Mikrozahlungen“ geglaubt, also geringe Beträge, für die dann die Information aufgerufen werden kann. Mehrere Versuche, ein solches System umzusetzen, seien aber gescheitert, und das Internet habe sich nach dem Mantra entwickelt: „Informationen wollen frei sein.“
Tim Berners-Lee, der Erfinder der Websprache HTML, hatte bereits die Vision von einem „dezentralisierten, organischen Wachstum von Ideen, Technologie und Gesellschaft“. „Die Vision, die ich für das Netz habe“, schrieb er, „ist es, dass alles mit allem verbunden werden kann“. Er sprach im Zusammenhang vom Netz von einer „neuen Freiheit“ und schnellem Wachstum.
Das Ethos des frühen Internets sei in der „Erklärung der Unabhängigkeit des Cyberraums“ von Perry Barlow aus dem Jahre 1996 gefasst, teilt Vardi mit. Die Erklärung eröffnet mit den Worten: „Regierungen der Industriewelt, ihr ermüdeten Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberraum, aus dem neuen Zuhause des Geistes. Im Namen der Zukunft fordere ich von Euch: Lasst uns in Ruhe. Ihr seid in unserer Mitte nicht willkommen. Ihr verfügt über keine Souveränität, wo wir zusammenkommen.“ Da ist wieder der Ton, der die Regierungen davor warnt, in diesen neuen Raum der Gesellschaft einzugreifen.
Der Preis: Vom Überwachungsstaat zum „Cyberkalifat“
Es geht in Vardis Geschichte aber nicht nur um die Freiheit, sondern auch um den Preis dieser Freiheit. Denn innerhalb von nur 20 Jahren habe sich die Utopie Barlows in eine Dystopie verwandelt. „Heute beschreiben manche Autoren den Cyberraum als ‚Cybirien, vom Cyber-Kalifat ganz zu schweigen, einem dunklen und gesetzlosen Reich, in dem böswillige Akteure von russischen Trollen bis hin zu IS*-Twitternutzern straffrei an der Untergrabung der institutionellen Grundpfeiler der Demokratie arbeiten‘“, referiert der Informatiker.
Das bringt Vardi mit dem Marktprinzip in Verbindung. „Märkte, in denen der Preis von Gütern und Leistungen durch Verkäufer und Käufer bestimmt wird, gehören zu den größten Erfindungen menschlicher Zivilisation, wenn es auch immer wieder Streit über Vor- und Nachteile freier Märkte, koordinierter Märkte, regulierter Märkte und ähnlichem gibt“, findet er.
Mit dem Kommunismus habe es den berühmtesten Versuch des 20. Jahrhunderts gegeben, marktfreie Ökonomien zu schaffen. In diese Tradition stellt der Informatiker auch das Internet, wenn er sagt: „Das Internet ist der zweite große Versuch, eine marktfreie Ökonomie in Bezug auf Information aufzubauen.“ Es fehlte nur noch, dass das Internet zunehmend als Geschäft erkannt wird und die freie Information sich auf anderem Wege auszahlt.
Denn dass die Information wirklich frei sei, bezeichnet Vardi als „eine Illusion“, in Wirklichkeit sind die Internet-Riesen „enorm gewinnbringende Unternehmen“. Zwar könnte man sagen, dass man selbst für die Werbung im Internet kein Geld ausgibt, doch auch das stimme nicht. „Werbetreibende lassen einfach die Werbekosten in den Preis der Güter und Leistungen, die sie anbieten, einfließen“, erklärt Vardi. „Also haben wir hier statt eines transparenten Markts einen undurchsichtigen Markt, in dem Konsumenten Internetunternehmen durch eine unsichtbare Steuer unterstützen.“
Doch das größere Problem ist die Erhebung von Daten, die direkt zum Überwachungsstaat führt: „Wie wir jetzt wissen, brauchen Werbetreibende im Netz Daten, um die Werbung effektiv zu schalten. Wir zahlen also nicht nur für die freie Information mit einer unsichtbaren Steuer, wir zahlen damit auch mit persönlichen Informationen. Das Internet ist auf diese Weise zu einer gigantischen Überwachungsmaschine geworden“, teilt der Forscher mit.
Selbst der Glaube, dass wir im Internet gezielt suchen, gehört laut Vardi richtiggestellt. „Wie findet man etwas in einer Bibliothek, die über keinen Katalog verfügt und in der die Bücher nicht sortiert sind? Wie findet man irgendetwas im Internet?“, fragt er. Denn in genau dieser Situation habe sich das frühe, rasend wachsende Internet befunden. Einen Versuch, die Information zu katalogisieren, habe Yahoo unternommen, sei aber daran gescheitert.
Danach kam es zur Erfindung der Suchmaschine. „Die ersten Suchmaschinen waren nicht gut und erzielten schlechte Ergebnisse, aber die Suchmaschine von Google hat das geändert. Google konnte eine hochqualitative Suchmaschine anbieten und eine Infrastruktur aufbauen, die ihr explosives Wachstum erleichterte. Aber das Unternehmen musste auch ein gewinnbringendes Geschäftsmodell ausarbeiten“, teilt der Informatiker mit.
Und hier kam die Werbung ins Spiel und setzte sich als Finanzierungsgrundlage der freien Information durch. „Als die Sozialen Medien dann wenige Jahre später aufkamen, war schon klar, dass das Businessmodell von Internetunternehmen Werbung ist“, so Vardi. Doch Werbung im Netz habe an sich wenig Wirkkraft. Deshalb sei die Herausforderung gewesen, Nutzer dazu zu bringen, auf Anzeigen zu klicken. So wurden aus seiner Sicht das „Clickbait“ und die zielgerichtete Werbung im Internet geboren. So entstand ein gigantischer Datenmagnet. Die persönlichen Daten können von Unternehmen, aber auch von Regierungen überwacht werden. Damit wird das Internet zur Überwachungsmaschine.
Dass etwas aus dem Ruder läuft, findet nicht nur Moshe Vardi. Auch der Geschäftsführer von Apple, Tim Cook, teilte jüngst mit, dass eine Regulierung der Nutzerdatenerhebung durch die Regierung „unausweichlich“ sei. Er forderte damit auch, dass die Macht von Datengiganten wie Google und Facebook eingeschränkt werde. Vardi fügt hinzu:
„Nur die Einschränkung der Macht von Internetunternehmen würde die Tür zu einer möglichen Entwicklung eines neuen Internets öffnen. So wie die Einschränkung der Macht von IBM in den 50ern das Wachstum anderer Computer-Unternehmen wie Intel und Microsoft und die Einschränkungen von Microsofts Macht in den 90ern das Wachstum von neuen Internet-Unternehmen ermöglichten.“
Dass das alte Internet einfach durch ein neues ersetzt werden könnte, glaubt Vardi dagegen nicht: „Das heutige Internet ist mit all seinen Schwächen ein fester Bestandteil des modernen Lebens geworden. Es ist unwahrscheinlich, dass es von selbst wegstirbt.“
„Reine Technikfragen“ gibt es nicht
Neben der staatlichen Regulierung hat auch jeder Nutzer die Möglichkeit, die Informationen, die er über das Internet mit einem Kommunikationspartner austauscht, zu verschlüsseln. Dies öffne aber auch „schlechten Akteuren die Tür“. Die Regierungen seien besorgt, dass diese durch Verschlüsselungstechnologien zu viel Macht gewinnen würden. Deswegen müsse auch hier ein Gleichgewicht zwischen dem Schutz der Nutzer und Einschränkungen Krimineller gefunden werden.
Doch auch die Entwickler selbst müssten mehr Verantwortung übernehmen. Das Motto Facebooks hat bis 2014 gelautet: „Beweg dich schnell voran und mach Dinge kaputt. Wenn du nichts kaputt machst, bewegst du dich nicht schnell genug.“ Ein ähnliches Motto habe auch Uber in den USA in seinem Wettbewerb mit der Taxibranche verfolgt. Es habe vielerorts gegen Verkehrsregeln verstoßen, die Verstöße seien aber als „reine Technikfrage“ ignoriert worden.
„Bei dem Wettbewerb um die Vorreiterrolle vergessen Unternehmer oft, den größeren Kontext zu bedenken, in dem ihre Leistungen und Produkte stehen, wie auch das menschliche und soziale Umfeld, das von ihnen betroffen sein wird“, betont Vardi. „Technik ist heute eine der Hauptkräfte, die die Gesellschaft bewegen. Dinge kaputt zu machen, kann entsprechend auch bedeuten, dass Technologien tiefgreifende negative gesellschaftliche Folgen haben können. Mit Blick auf die jüngsten politischen Entwicklungen in der Welt klingen Aussagen wie die, dass Technik die Demokratie untergraben habe, nicht mehr so verrückt.“
Heute werde unter Informatikern bereits viel über Ethik gesprochen. Die Gesellschaft für Informationsmaschinen (Associaton for Computing Machinery) etwa hat vor kurzem ihren Ethikkodex überarbeitet. Er wurde geschaffen, „um das ethische Verhalten aller professionellen Informatiker zu inspirieren und diese anzuleiten. Das gilt auch für gegenwärtige und aufsteigende Praktiker, Instrukteure, Studenten, Influencer und jeden, der Computer-Technologien in einer wirkungsvollen Art nutzt.“
„Technologie treibt die Zukunft an, aber es liegt an der Gesellschaft, das Steuer zu führen“, betont Vardi. „Aber die richtige Steuerungstechnologie und ein Verständnis davon, wie sie sich auf unsere Gesellschaft und Kultur auswirkt, ist eine ziemliche Herausforderung. Das erfordert ein disziplinübergreifendes Gespräch zwischen Technologen, Soziologen und Humanisten. Mit den Auswirkungen von Technologien zurechtkommen gehört zu den wichtigsten Herausforderungen, die die Menschheit bewältigen muss. Wir sollten dieser Herausforderung gemeinsam begegnen.“"
Quelle: Sputnik (Deutschland)