Games im Schulunterricht
Archivmeldung vom 28.07.2016
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Freigeschaltet durch André OttComputerspiele gehören zum Alltag von Kindern und Jugendlichen. In deutsche Klassenzimmer halten sie trotzdem nur schleppend Einzug. Zum Glück wächst das Interesse seitens der Pädagogen.
Games sind zu einem Kulturgut und Massenphänomen wie Musik oder Filme geworden. Inzwischen spielen etwa 30 Millionen Deutsche regelmäßig Videospiele. Natürlich ist die Mehrzahl von ihnen noch unter 30 Jahre, aber auch bei den Senioren wächst die Leidenschaft für digitale Spiele. In der Mitte der Gesellschaft angekommen, entdecken auch immer mehr Pädagogen Computerspiele als Möglichkeit, um wichtige Soft Skills wie Kreativität und Teamfähigkeit zu fördern.
Bei unseren europäischen Nachbarn haben Games inzwischen den Sprung ins Klassenzimmer geschafft. In Großbritannien wurde gerade Informatik und Programmieren in die Lehrpläne von Grundschulen und Sekundarstufen integriert. In Norwegen und Schweden bieten bereits erste Schulen Gaming als Schulfach an. In Deutschland steht man bei dieser Entwicklung noch ganz am Anfang. "Bisher finden digitale Spiele trotz ihrer für den Schulunterricht bestens geeigneten Motivations- und Lehrpotenziale kaum Verwendung in der Schulbildung", sagt Dr. Maximilian Schenk, Geschäftsführer des BIU - Bundesverband Interaktive Unterhaltungssoftware.
Zum Glück gebe es aber immer mehr Lehrkräfte, die großes Interesse am Einsatz von digitalen Spielen in ihrem Unterricht zeigen. Möglichkeiten dazu seien vielfältig, erklärt Martin Geisler, Professor für Kultur und Medien an EAH Jena. "Besonders beliebt sind Serious Games, die Inhalte für den Unterricht spielerisch vermitteln sollen." Auch Gamification, also der Einsatz von spielerischen Elementen in spielfremden Kontexten, wird gerne genutzt. Ein aus seiner Sicht besonders interessanter Ansatz ist das "Serious Playing".
Dabei thematisieren die Pädagogen beliebte Computerspiele und ihre Inhalte im Unterricht. Beispielsweise besprechen sie den historischen Action-Hit "Assassin's Creed" mit den Schülern im Geschichtsunterricht und prüfen, ob die Handlung mit dem eigenen Wissen über die mittelalterlichen Kreuzzüge im Heiligen Land übereinstimmen. "Diese Form der Auseinandersetzung ist näher an der Lebenswelt der Schüler als die meisten Lernspiele und zeigt echtes Interesse an ihrer Kultur", so Geisler. Allerdings setze das Serious Playing voraus, dass die Lehrkräfte sich mit den Inhalten der Spiele vorurteilsfrei auseinandersetzen und passende Unterrichtskonzepte entwickeln.
Lernen mit Pixel-Klötzen
Als eines der wenigen kommerziellen Games hat "Minecraft" den Einzug in die Klassenzimmer geschafft. Millionenfach verkauft und mit einer sehr aktiven Fangemeinde ist es eins der beliebtesten Spiele der vergangenen Jahre. Hinter dem Erfolg steht ursprünglich das kleine, schwedische Entwicklerstudio Mojang. Microsoft hat 2014 die Games-Schmiede für 2,5 Milliarden US-Dollar aufgekauft und kümmert sich seither um die Weiterentwicklung. Das Minecraft-Konzept ist simpel: Im klotzigen Retro-Look gestalten die Spieler ihre eigenen Pixel-Wel
ten. Ihrer Kreativität sind dabei keine Grenzen gesetzt: Sie können jedes existierende oder denkbare Objekt nachbauen. Schon in der Entwicklungsphase entdeckten engagierte Lehrkräfte vor allem in den USA das pädagogische Potential von Minecraft. Einer der deutschen Vorreiter ist Chemie- und Informatiklehrer Mirek Hancl. Er nutzt seit knapp fünf Jahren das Spiel am Lessing-Gymnasium Uelzen.
Immerhin fördert das muntere Blöcke-Puzzle räumliches Vorstellungsvermögen und spricht die Kreativität der Spieler an. Auch Inhalte lassen sich so wunderbar vermitteln. Als Vorbereitung auf einen Chemie-Test bauen die Schüler Moleküle zusammen. Im Physikunterricht ordnen sie das durcheinandergeratene Sonnensystem.
In Mathematik beschäftigen sich die Schüler mit Relationen, Quadranten, Flächen und Volumen. Inzwischen hat Microsoft sogar eine eigene Schulversion angekündigt. Mit dieser Education Edition wolle man zeigen, wie Lernen mit Videospielen funktionieren kann, heißt es. Den Lehrern will der Konzern verschiedene Lektionen zum Download anbieten. Das Spektrum reicht von Physik und Mathematik über Geschichte bis hin zu Musik.
Serious Games lassen sich auch in der Schule nutzen
Von Anfang an auf die Vermittlung von Inhalten ausgelegt sind die sogenannten "Serious Games". Seit einigen Jahren erfreuen sie sich vor allem in der Wirtschaft einer wachsenden Beliebtheit. Statt ihre Mitarbeiter mit analogen Schulungsunterlagen und Powerpoint-Vorträgen zu langweilen, lassen immer mehr Firmen ihre Mitarbeiter aus Bildungszwecken spielen. Bei der Lufthansa müssen die Nachwuchskräfte eine virtuelle Airline führen.
Autobauer wie Volkswagen und Volvo schicken ihre Auszubildenden in digitale Werkstätten und Versicherungen schulen ihre Vertriebsmitarbeiter in virtuellen Welten. Auch für den Schulunterricht gibt es inzwischen einige gelungene Beispiele. Bei "Squirrel & Bär" retten die Spieler zum Beispiel die Waldbienen vor dem Aussterben und üben gleichzeitig Englischvokabeln. Das Abenteuerspiel "Ajabu" bringt Kindern die Probleme Afrikas näher.
"Darfur is Dying" zeigt das tägliche Leben in einem Flüchtlingscamp. Aus Sicht von Geisler haben diese Serious Games jedoch einen entscheidenden Nachteil gegenüber den bei Schülern beliebten Videospielen. "Sie werden oft mit kleinem Budget und engen Rahmenbedingungen produziert. Genau das merkt man vielen von ihnen an", erklärt der Medienpädagoge. Sie seien in Sachen Komplexität, Grafik und nicht zuletzt Spielspaß oft weit von den kommerziellen Titeln entfernt. Deshalb stoßen sie bei den Kindern und Jugendlichen nicht immer auf Gegenliebe.
Virtuelle Erfahrungspunkte statt Fleißsternchen
Auf den Spannungseffekt erfolgreicher Computerspiele setzt die sogenannte "Gamification". Besondere Aufgaben und Bonussysteme sollen die Schüler zum Lernen motivieren. So funktioniert auch der derzeit wohl prominenteste Genre-Vertreter "Classcraft", eine Art Fantasy-Rollenspiel für das Klassenzimmer. Als Krieger, Heiler und Priester bestreiten die Schüler den abenteuerlichen Schulalltag.
Für richtige Antworten gibt es Erfahrungspunkte, noch mehr Punkte bringt ein gutes Referat. Vergessene Hausaufgaben kosten dagegen Lebensenergie, genau wie Zuspätkommen. Gegner wie Test-Trolle oder Klausurendrachen müssen die Schüler allein besiegen. Andere Missionen können sie dagegen nur in der Gruppe lösen. Der Lehrer steuert das Rollenspiel per Smartphone-App.
Erdacht hat sich das System der US-Highschool-Lehrer Shawn Young. Als Ergänzung zu den normalen Noten konnten die Schüler in seinen Physik- und Chemiekursen ihr "Classcraft"-Level verbessern und damit Sonderrechte erwerben wie essen im Unterricht oder einen Tag länger Zeit für das Referat. Aus Youngs Sicht verspricht dieser ungewöhnliche Lernkontext Erfolg. "Ich habe das Spiel in vier Kursen getestet, mit über 100 Schülern.
Es war stets ein Motivationsschub, besonders für die schwächeren Schüler. Auch der Zusammenhalt der Klassen hat sich verbessert", erklärt er. Bestätigt durch diese positiven Erfahrungen hat er inzwischen den Lehrerjob an den Nagel gehängt und exportiert sein Spielsystem weltweit. Seit zwei Jahren gibt es auch eine deutsche Version. Nach einem ähnlichen Prinzip funktioniert auch "Professor S". Dabei müssen Grundschüler dem etwas schusseligen Professor S und seiner Assistentin Jeanette aus der Patsche helfen. Die beiden sind in einem Zeitmaschinenexperiment gefangen. "Aus dieser fiktiven Spielwelt entstehen reale Probleme und Aufgaben, die die Schüler im Unterricht lösen müssen", erklärt Entwickler Jan von Meppen.
Die Rolle des Professors übernimmt wieder der Lehrer selbst. Er stellt die Aufgaben und schickt Textnachrichten an die Schüler. "So lässt sich das Spiel in jedem Unterrichtsfach nutzen. Wir geben nur einen Rahmen vor und der Lehrer kann selbst Arbeitsaufträge stellen", sagt er. Als Orientierung hat das Entwickler-Team einen Grundstock von Aufgaben entwickelt. Bei Pädagogen kommt dieser Ansatz gut an. Inzwischen setzen über 50 Grundschulen das digitale Spiel ein. Seitdem Professor S bei der diesjährigen Verleihung des Deutschen Computerspielpreises in der Kategorie "Serious Games" gewonnen hat, kommen immer mehr Anfragen von Lehrern und Einladungen zu Kongressen hinzu.
Interaktivität der Spiele sorgt für ein nachhaltiges Lernen
Dass sich ein überlegter Einsatz von Games im Unterricht lohnt, belegen inzwischen auch einige Studien. Zum Beispiel verglichen US-Forscher den Lernerfolg beim klassischen Frontalunterricht mit Unterrichtseinheiten, in denen ein Lernspiel eingesetzt wurde. Das Ergebnis: Den Stoff beherrschten beide Schülergruppen ähnlich gut. Die Kinder, die das Lernspiel benutzen, entwickelten allerdings mehr Freude beim Lernen und empfanden den Unterricht als angenehmer. Eine aktuelle Studie der University of Rochester im US-Bundesstaat New York legt nahe, dass moderates Spielen die Gehirnleistung fördern könnte: Gamer können sich laut der Wissenschaftler schneller auf neue Aufgaben einstellen.
Die Forscher untersuchten dabei keineswegs Lernspiele, sondern kommerzielle Blockbuster-Titel. Die Autoren Martin Lorber und Thomas Schutz gehen noch einen Schritt weiter. In ihrem gerade erschienen Buch "Gaming für Studium und Beruf - Warum wir lernen, wenn wir spielen" vertreten sie die These, dass Computerspiele auf das Berufsleben vorbereiten. Grund für die Annahme: Im Gegensatz zu Film und Fernsehen sind Computerspiele interaktiv und das Lernen damit deutlich "nachhaltiger".
Für den Erfolg in virtuellen Welten braucht es außerdem Disziplin, Ausdauer und Konzentration. Strategiespiele erfordern eine umsichtige Planung. Zudem müssen die Spieler mögliche Konsequenzen ihrer Spielzüge im Vorfeld abwägen. Die Kooperation mit vielen Mitspielern in Online-Rollenspielen trainiert zudem soziale Kompetenzen wie Teamfähigkeit und Kommunikation. Sportspiele wie die FIFA-Reihe setzen auf antizipiertes Denken und Handeln. Im Chat mit internationalen Mitspielern verbessern die Gamer ganz nebenbei ihre Sprachkenntnisse. Auch Strategien für die Lösungen komplexer Probleme und der konstruktive Umgang mit Fehlentscheidungen lassen sich spielerisch üben. All diese Eigenschaften sind auch im realen (Berufs-)Leben durchaus gefragt.
Voneinander lernen ohne Vorurteile
Damit solche Vorteile auch im Schulalltag genutzt werden können, bedarf es allerdings einiger Vorbereitung. "Der Einsatz von Games im Unterricht sollte immer einen Grund haben. Sie müssen gut eingebettet sein, sonst verpuffen die positiven Effekte schnell", sagt Johannes Fromme, Professor für Medienpädagogik an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Genau dafür brauche es Pädagogen, die sich der Lebenswelt der Schüler öffnen und bewusst Anknüpfungspunkte suchen. Vorurteile gegenüber dem Medium stellen jedoch längst nicht die einzige Hürde dar, wie eine Studie des European Schoolnet zeigt.
So verwiesen die befragten Lehrer neben unpassenden Inhalten oder Bedenken wegen negativer Aspekte der Spiele-Nutzungen vor allem auf fehlende Fortbildungsangebote, Kosten und Lizenzfragen sowie mangelnde technische Ausstattung in der Schule. Außerdem dauern die klassischen Unterrichtsstunden mit 45 Minuten nicht lange genug, um Video-Spiele effektiv nutzen zu können. "Bei der Bewältigung solcher Hürden brauchen interessierte Lehrer mehr Anleitung und Unterstützung", fordert Fromme.
Passende Fortbildungsangebote und Kooperationen mit Medienpädagogen könnten eine solide Basis für den Unterricht schaffen, indem Lehrkräfte sich intensiv mit der Materie auseinandersetzen und Vorurteile abbauen. Dabei sollte es nicht nur um Inhalte, Technik und Didaktik gehen. Die Lehrer müssen auch ihr Rollenverständnis reflektieren. In Sachen Gaming besitzen die meisten Schüler schließlich einen großen Wissensvorsprung. Genau dieser Expertenstatus lässt sich nutzen, indem Schüler und Lehrer auf Augenhöhe voneinander lernen und über das Gaming nachdenken - einmal ganz ohne Vorurteile.
Quelle: Bundesverband Interaktive Unterhaltungssoftware e.V. (BIU) (ots)