US-Ausspähprogramme: warum wir auf Big Brother pfeifen
Archivmeldung vom 29.10.2013
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittNachdem Edward Snowden uns die Wahrheit über das amerikanische Ausspähprogramm PRISM erzählt hat, hätte die Welt, so sollte es scheinen, bei dem Gedanken, es gäbe keinen Begriff wie „Privatleben“ mehr, vor Schrecken erzittern müssen. Aber wie es aussieht, macht es uns überhaupt keine Sorgen, dass der Große Bruder rund um die Uhr jeden unserer Schritte überwacht. Umgekehrt empfinden wir dabei eine wahrhaft exhibitionistische Befriedigung. Radio "Stimme Russlands" hat zusammen mit der Psychologin Irina Lukjanowa versucht, diesem neuen sozialen Phänomen auf die Spur zu kommen.
Irina Lukjanowa sagt dazu: ""Die Leute haben sich daran gewöhnt, dass sie in den letzten Jahren buchstäblich hinter „gläsernen Mauern“ leben müssen. Das Privatleben der meisten Menschen ist heute so durchsichtig, wie es überhaupt möglich ist. Für sie ist das kein persönlicher, abgeschiedener Raum, sondern etwas, das der Öffentlichkeit zur Ansicht bereitgestellt werden kann und muss.“
Die Abhängigkeit der modernen Gesellschaft von den sozialen Netzwerken und dem Internet ist übermächtig. Laut Statistik verbringen 98 Prozent der Leute, die Zugang zum weltweiten Netz haben, dort täglich mindestens 15 Minuten. Was die Jugend angeht, so beläuft sich die Zeit, die mit Korrespondenz und Web-Surfing verbracht wird, schon längst nicht mehr auf Minuten, sondern auf Stunden.
Eine Gruppe russischer Forscher hat unlängst ein interessantes Experiment mit Heranwachsenden im Alter von 13 bis 17 Jahren, 22-30 Jahre alten Jugendlichen und Erwachsenen zwischen 32 und 45 durchgeführt. Sie sollten drei Tage lang keinen Computer oder andere ähnliche Geräte benutzen und nicht ins Internet gehen. Alle anderen Aktivitäten – Lesen, Kino, Sport, Disco und Freizeit mit der Familie – waren nicht nur erlaubt, sondern wünschenswert. Die Ergebnisse waren erschreckend: bei den jüngsten konnte niemand die gestellte Aufgabe bewältigen, alle gaben am ersten Tag auf. In der mittleren Gruppe waren nur 30 Prozent in der Lage, drei Tage lang aufs Internet zu verzichten. Das beste Resultat erbrachte die älteste Gruppe – dort meisterten mehr als 75 Prozent die Aufgabe. Die Mehrheit der Teilnehmer der jüngsten Gruppe gab zu, dass sie „Unruhe, Apathie und Gereiztheit verspürte“, wenn sie keinen Zugang zum Netz hatte.
Soll heißen: je früher die Leute ihre Internet-Aktivität aufnehmen und ihr soziales Leben in die virtuelle Realität verlegen, desto schwerer fällt ihnen später die Abstinenz von der Internet-Nutzung.
Irina Lukjanowa wundert sich nicht:
„Wenn ein Mensch seine Welt nur um Kontakte in sozialen Netzwerken und Internet-Gemeinschaften aufbaut, wenn er das, was gut oder schlecht ist, nur in der Anzahl von „Gefällt mir!“ ausdrückt, wenn er sich nur deswegen fotografieren lässt, um ein paar Minuten später das neue Foto ins Netz zu stellen und Kommentare dazu und allgemeine Anerkennung zu finden, wenn er die Handlungen anderer durch das gigantische Schlüsselloch seines Monitors verfolgt und ihn das echte, reelle Leben nicht interessiert – dann können wir von einer tiefen inneren Krise des Individuums, von einem Gefühl der Einsamkeit und der Selbstunsicherheit, von einer Abhängigkeit von der Meinung der „unsichtbaren“ Mehrheit und einer Abhängigkeit vom Internet im Allgemeinen sprechen.
Das ist ein sehr ernstes, aber leider sehr verbreitetes Problem unserer Zeit. Das ist eine Geißel der modernen Gesellschaft, die nicht sehr leicht geheilt werden kann. Das betrifft ganz besonders die junge Generation, die sich ihre Existenz außerhalb des Internets nicht vorstellen kann. Deshalb müssen die Eltern ihren Kindern helfen, den virtuellen Raum ohne große Verluste zu nutzen. Sie müssen ihnen sagen, was man „reinstellen“ darf und was besser nicht. Im Idealfall sollte jeder sein eigener innerer Zensor sein. Sowohl die im Netz verbrachte Zeit als auch die Qualität und Zweckmäßigkeit der veröffentlichten Informationen sollten selbst kontrolliert werden.“
Das Internet ist eine neue Art von Droge. Und selbst wenn Big Brother uns überwacht, regt uns das jetzt kaum noch auf. Denn kaum einer wird auf die Nutzung eines solch mächtigen „Cyber-Dschinns“ verzichten, der für uns und in unserem Namen der Flasche entwichen ist. Dass jeder Beliebige absolut alles über uns erfahren kann, ist dabei unwichtig. Wir haben ja alle nach dem Durchlesen des Vertrags über die Vertraulichkeit der Informationen neben dem Feld „Ich bin einverstanden“ ein Häkchen gesetzt."
Quelle: Text Aljona Rakitina - „Stimme Russlands"