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Neue Diagnosemethoden für Online-Rollenspielsucht

Archivmeldung vom 19.08.2010

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 19.08.2010 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Manuel Schmidt
  Bildquelle: aboutpixel.de / Workaholic © Bernd Boscolo
Bildquelle: aboutpixel.de / Workaholic © Bernd Boscolo

Ritter, Hexer, Elfen, Zwerge - die bunten, meist mittelalterlich inspirierten Fantasiegestalten sind spätestens seit Tolkiens Megaseller „Der Herr der Ringe“ nicht bloß etwas für Kinderbücher. Auch in der Landschaft der Computerspiele sind sie fest etabliert. „World of Warcraft“, das wohl bekannteste Online-Rollenspiel, hat heute schon weltweit über zehn Millionen Nutzer zu verzeichnen. Es sind größtenteils junge Männer über 20, die den märchenhaften Fantasiewelten im Comicstil erliegen. Sie sitzen Stunde um Stunde vor ihrem Computer, erkunden virtuelle Traumlandschaften oder kämpfen gegen finstere Monster.

Neben einem großen Unterhaltungswert bergen die Spiele aber auch Risiken: Online-Rollenspiele machen süchtig, so heißt es. Und die in den Medien kursierenden Zahlen angeblich Betroffener sind erschreckend hoch. Diese neue Form der Suchtkrankheit ist noch weitgehend unerforscht, erste Studien kommen aber auf Werte, nach denen bis zu 20 Prozent der Spieler abhängig sind.

Das liegt laut Frank Meyer, Diplom-Psychologe am Lehrstuhl für Klinische Psychologie, allerdings hauptsächlich an der noch sehr ungenauen Diagnostik: „Unter Internet- oder Computerspielsucht wird erst einmal alles gefasst. Dabei müssen Online-Rollenspiele gesondert untersucht werden.“ Es sind nämlich gerade ihre Besonderheiten gegenüber anderen Computerspielen, die ihr Suchtrisiko ausmachen.

Zwei wesentliche Merkmale dieser so genannten „Massive Multiplayer Online Role- Playing Games“ (MMORPGs) erhöhen die Gefahr der Abhängigkeit. Zum einen sind diese Spiele äußerst sozial angelegt. „Was aus meiner Sicht das Suchtpotential ausmacht, ist die Verbindung der Eigenschaften klassischer Computerspiele mit der sozialen Funktion des Internets“, erklärt Meyer. Während der Nutzer klassischer Computerspiele meist allein oder in kleinen Gruppen spielt, umfasst die Spielergemeinschaft hier Millionen. Und nicht nur das: Anstatt lediglich gegeneinander anzutreten, werden Zusammenarbeit und Hilfsbereitschaft sofort belohnt.

Das ermöglicht nicht nur die Kontaktaufnahme, wie es zum Beispiel beim Chat der Fall ist, es befördert sie sogar. In der virtuellen Welt des Computerspieles begegnen sich die Mitspieler, sprechen sich an und helfen sich. Die Hemmschwelle zur Kontaktaufnahme ist so strukturell bedingt niedrig. Der Nutzer lernt schnell andere Spieler kennen und wird auf diesem Weg in ein soziales Netz eingebunden. Es entstehen Verpflichtungen nach dem „Hilfst Du mir, helfe ich Dir“-Prinzip.

Die Nutzer dieser Online-Rollenspiele sind oft in festen Gemeinschaften organisiert. Mehrere Spieler schließen sich zu einer so genannten „Gilde“ zusammen, um mit gegenseitiger Hilfe schneller im Spiel aufzusteigen. Eben diese Gruppenstruktur erhöht auch den sozialen Druck, regelmäßig am Spiel teilzunehmen.

Denn das zweite wichtige Merkmal, das das Suchtpotential steigert, ist die auf Dauer angelegte Beschaffenheit von Spielfigur und -welt. Prinzipiell gibt es kein Ende des Spiels, weder durch einen endgültigen Sieg, noch durch ein klassisches Game Over. Es läuft immer weiter, auch wenn der Spieler gerade nicht teilnimmt. In der Zeit sind andere Nutzer aktiv und verändern die Spielsituation. Das kann die Angst auslösen, den Anschluss zu verpassen und so das massive Spielen befördern.

In der Suchtdiagnostik finden diese Besonderheiten der Online-Rollenspiele bisher kaum Berücksichtigung: „Hier werden Kriterien herangezogen, die der Diagnosepraxis für andere Abhängigkeiten, wie zum Beispiel dem Alkoholismus, entstammen. Doch ist die Übertragung sehr schwierig und wurde in der Vergangenheit von Psychologen und Spielern zu Recht kritisiert. Es ist nicht das gleiche, ob ich zehn Stunden spiele oder zehn Stunden Bier trinke“, erklärt Meyer das Problem. Genau das hat das Team von Prof. Pietrowsky zum Anlass genommen und einen Fragebogen speziell zur Diagnostik von Internet-Rollenspiel-Sucht entwickelt.

Dafür wurden alle bisher gängigen Diagnosekriterien zusammengestellt und weitere hinzugefügt, die die Wissenschaftler aus Befragungen von Onlinespielnutzern gewonnen haben. „Was die Merkmale der Spiele angeht, sind die Spieler die Experten, nicht wir“, stellt Meyer fest. „Unser Fragebogen deckt viele verschiedene Inhalte ab. Das ermöglicht uns eine sehr breite Messung von Suchtfaktoren“, bewertet er Den neuen Fragebogen gibt es mittlerweile nicht mehr nur auf deutsch, sondern zusätzlich auf englisch, spanisch, russisch und neuerdings auch auf chinesisch.

Das wichtigste Ziel ist aber nicht die Diagnostik, sondern die Hilfe für die Betroffenen.

Hier wird künftig auf zwei Ebenen vorgegangen. Nicht nur die unter Abhängigkeit leidenden Spieler sollen erreicht werden, sondern auch die praktizierenden Psychologen. Sie erhalten zum einen mit dem Fragebogen ein Diagnosewerkzeug, werden zum anderen aber auch ausreichend geschult, um derartige Suchterkrankungen therapieren zu können. „Ich denke, dass im Grunde die gleichen Maßnahmen angewendet werden können wie beispielsweise bei klassischer Spielsucht. Nur muss dabei einiges berücksichtigt werden“, erläutert Meyer. „Zum Beispiel gibt es bei dieser Art von Onlinespielen verschiedene Nutzungsmotive. Sucht ein Spieler vor allem eine gewissen Nervenkitzel für sein Leben oder Anerkennung, sollte man anders vorgehen als bei jemandem, für den die sozialen Aspekte des Spiels besonders wichtig sind.“

Ein weiterer wesentlicher Unterschied zu anderen Suchtkrankheiten besteht in der Hartnäckigkeit, mit der die positiven Anreize zum Spielen einladen. Selbst bei einer Abhängigkeit mit akutem Leidensdruck bleiben die positiven Verstärker nahezu unverändert erhalten. Bei anderen Abhängigkeiten nimmt das Leiden meist mit der Zeit zu, während die positiven Effekte aufgrund von Toleranzentwicklung stetig nachlassen. „Für Online-Rollenspiele scheint dies nicht zu gelten, da sie ständig um neue Anreize erweitert werden und auch das soziale Netzwerk der Spieler für Betroffene weiterhin erfahrbar bleibt.

Von der Verteufelung der Spiele, wie sie derzeit stattfindet, hält Meyer nichts: „Das läuft genau dem zuwider, was wir eigentlich erreichen wollen. So schrecken wir die Spieler ab, anstatt Zugang zu ihnen zu bekommen. Um ihnen helfen zu können, ist es wichtig, die Betroffenen und ihre Begeisterung für das Spiel zu verstehen.“

Quelle: Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

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